Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

470 Mebericht der politischen Estwi###lung bes Jahres 1677. 
zwischen den Großmächten gegenüber dem Vorgehen Rußlands keiner- 
lei Uebereinstimmung herrschte, vielmehr jede nur ihre speciellen In- 
teressen im Auge hatte, denen gegenüber in ihrer Vereinzelung und 
in ihrer eigenen Unklarheit darüber, was sie Positives wollten und 
wollen sollten, Rußland gewonnenes Spiel hatte. Erst der Waffen- 
stillstand von Adrianopel und die Friedenspräliminarien oder eigent- 
lich der Friede von San Stefano zwischen Rußland und der Pforte 
öffneten Oesterreich und England und in Wahrheit ganz Europa die 
Augen über die wahren Absichten Rußlands und über ihre eigene 
Lage. Beide fallen aber nicht mehr in's Jahr 1877. 
vuchc Ob Europa, ob namentlich Oesterreich und England daran 
*i' wohl gethan haben, zuzuwarten, bis Nußland alles erreicht hatte, 
reich undwas es nur gewünscht haben mochte und noch mehr, ist eine andere 
3 Frage. Dadurch indeß, daß der Krieg localisirt blieb, wurde Mittel- 
europa der Friede erhalten, was um so werthvoller war, als Deutsch- 
land, Oesterreich und Frankreich während des ganzen Jahres in 
Verfassungskrisen schwebten, welche wohl geeignet waren, ihre ganze 
Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. 
Teutsch. Man hätte wohl denken sollen, daß die deutsche Nation durch 
land unddie Einheit, die sie nach den Kriegen von 1866 und 18701, endlich 
Arihhe langt hatte, sich zufrieden gestellt, und durch die Machtstellung, 
Ver= welche fie durch den letzteren glorreichen Krieg in Europa errungen 
sallunge hatte, vollkommen befriedigt gefühlt hätte und daß es ihr beschieden 
gewesen wäre, auf eine lange Reihe von Jahren einfach auf der ge- 
wonnenen Grundlage weiter zu bauen. Leider war und ist das kei- 
Tie neswegs so ganz der Fall. Die Verfassung, die zuerst nach 1866 mit 
d dem damaligen norddeutschen Bunde vereinbart und nach 1871 auf 
Neichs. gLanz Deutschland und das nene deutsche Reich übertragen wurde, ist 
ver= zwar ein Meisterwerk des Fürsten Bismarck, nicht aus irgendwelcher 
sassung. Theorie entsprungen, sondern auf Grund und nach Maßgabe der 
gegebenen Zustände gebaut. Das Werk des großen Reichskanzlers wird 
vielleicht erst später als das, was es ist, voll und rein erkannt und 
anerkaunt werden. Fürst Bismarck dachte nicht daran, ein von Anfang 
an mehr oder weniger vollendetes, in allen seinen Theilen Überein- 
stimmendes Werk zu schaffen. Er begnügte sich, eine den bestehenden 
Verhältnissen wie den Anforderungen der Zukunft entsprechende Aus- 
gleichung zwischen Föderalismus und Einheitsstaat, zwischen dem 
bisherigen Particularismus und den Forderungen einer kräftigen 
Gesammtleitung zu suchen und er fand sie auch in einer Weise, die
	        
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