Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

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den Bedürfnissen seiner eigenen gewaltigen Persönlichkeit wic den 
berechtigten Anforderungen der Nation sowohl in ihrer Gesammtheit 
als in ihren einzelnen Theilen entsprechen mochte. Mit den jämmer- 
lichen Zuständen unter dem Regiment des alten Bundestages, die 
einer großen Nation geradezu unwürdig waren, ließ sich die neue 
Schöpfung in Wahrheit gar nicht vergleichen: der Fortschritt ist ein 
geradezu ungeheurer. Aber es waren nur die nothwendigsten Fun- 
damente des Baues gelegt und in den ersten Jahren nach 1871 
hatten denn auch die Reichsregierung und der Reichstag genug zu 
thun, das neue Haus selbst nur nothdürftig einzurichten, um darin 
überhaupt wohnen zu können, und die Gesehgebung mußte schon 
dazu vielfach gewissermaßen mit Dampf arbeiten, was nicht ganz 
zweckentsprechend, aber eben vorerst fast unerläßlich war. Je weiter 
man indeß in dieser Arbeit vorschritt, desto deutlicher mußte es allen 
Betheiligten werden, wie unvollkommen allerdings die Reichsverfas- 
sung war und wie viele Lücken sie darbot, die sich nach und nach 
immer fühlbarer machten und immer lauter nach Ausfüllung in 
dieser oder jener Weise verlangten. In drei Beziehungen namentlich 
trat dies immer entschiedener und lauter zu Tag: Einmal nämlich 
ergab es sich bald, daß die weitere Ausbildung des Reichs, seiner 
Organe wie seiner Aufgaben, immer größere finanzielle Mittel er- 
fordere, mit welchen das Reich als solches nur sehr ungenügend aus- 
gestattet, vielmehr darin wesentlich auf die sog. Matricularbeiträge 
der Einzelstaaten angewiesen war, welche denn auch von Jahr zu 
Jahr höher stiegen und schließlich eine Höhe erreichten, die den bis- 
herigen soliden Haushalt dieser Einzelstaaten ernstlich gefährden 
mußten. Im Weiteren konnte man sich gelegentlich wiederholter 
Vorkommnisse nicht verhehlen, daß das sog. constitutionelle System 
in Deutschland noch ein sehr junges und die Stellung des Reichs- 
tags gegenüber der Reichsregierung wie die Stellung der Landtage, 
namentlich des preußischen gegenüber der preußischen Regierung, nur 
eine sehr bescheidene sei, so daß der Reichstag, die Vertretung der 
ganzen Nation, sich gegenüber den eingreifendsten Krisen wiederholt 
in der allerdings nicht sehr erhebenden Lage fühlte, einfach gewär- 
tigen zu müssen, wie sie schließlich gelöst würden, ohne dagu seiner- 
seits irgend eltwas thun zu können. Verglichen mit der Stellung 
der Volksvertretung in England, in Frankreich, in Italien und in 
anderen Ländern sprang der Unterschied hie und da allerdings scharf 
in die Augen. Endlich konnte nicht verkannt werden, daß die Reichs-
	        
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