76 Das denlsche Rtith und seint tinzelnen GSlieder. (März 13.)
Pflicht, an Abänderung der Verfassung zu denken oder durch praktische Politik
Abhülfe zu schaffen. Am bedeunklichsten jedoch sind solche theoretische Aus-
sführungen aus der Verfassung, welche mit der Praxis völlig in Widerspruch
stehen. So erklärt heute der Reichskanzler, daß Alles, was in der Verfassung
stünde auch möglich sein müßte. Ein Schüler egel's hätte sich. entschieden
über den Ausspruch freuen müssen; aber diese Philosophie ist in Deutsch-
land doch einigermaßen überwunden. Es ist nach meiner Ueberzen ung un-
Möglich, daß ein einziger Mann die ganze Verantwortlichkeit der Reichsver-
waltung auf sich nimmt. Der Reichskanzler hat sich selbst über Mangel an
Arbeitskraft beklagt; ich stimme damit völlig überein. Wir wollen ihm aber
nicht einen neuen Geheimrath oder Unterstaatssekretär, der dem Neichskanler
Kanzleidienste verrichtet, geben, sondern einen politischen Kof, er mit
eigener Verantwortlichkeit eintritt. Nun ist als Hindernih gegen die
Reicheminister hervorgehoben worden, daß es thatfächlich gar keine eigenen
Departements für die einzelnen Minister gibt. Da habe ich heute aber zur
größten Verwunderung 7r daß der Reichskanzler das preußische Finang
ministerium lieber in drei Departements getheilt zu sehen wünsche, als da
die ichigen Verhältnisse bestehen bleiben, und die Finanzen des Reiches sind
doch bedeutend größer, als die des Einzelstaates Preußen. Der Reichskanzler
sagt selbst, er müss 10—15 Stunden arbeiten, wenn er Alles fert stellen
wolle; ich sage sogar, daß ein einziger Mann selbst bei 24 Stunden Arbeits-
zeit nicht die Veobnkrportnn übernehmen kann, wie sie für die Verwaltun
des gesammten deutschen Reiches nöthig ist, denn dieselbe soll nicht let
formell, sondern factisch sein. Ich gebe zu und bin vollständig über-
engt, daß ohne Einwilligung des Maeichstanglers eine Verfas-
sonsneun nicht möglich sein würde; aber wenn er selbst kommen
und erklären würde, daß es ihm nicht mehr mögli sei, die ganze Verant-
wortung auf sich zu nehmen, 60 würde sich Niemand diesem lebendigen und
volgiltigen Zeugen gegenüber auf einen geschriebenen Verfassungsparagraphen
berufen. Der eh skanzler meint, daß wir mit den Resultaten der wenigen
Jahre seit dem *omd*n des deutschen Reiches wohl zufrieden sein könnten;
aber es ist dies nicht bloß das Resultat der letzten Jahre, sondern es ist be-
gründet in der Summe nationaler Kraft, nationalen Willens und Strebens,
welche vor dem Jahre 1870 aufgehäuft war. Nicht der 15. April bringi
die Blüthen hervor, sondern man muß auch die treibende Kraft in Rechnun
ziehen, welche im Herbst thätig gewesen ist. Es ist ganz naturgemäß, daß
bei uns diese treibenden Kräfte im Abnehmen begriffen sind; denn wir ar-
beiten auch seit langer Zeit mit der Regierung in einer Weise, wie sie in
keinem andern parlamentarischen Staate besteht, indem wir wohl
die Verantwortung mit ihr tragen müssen, aber mit der traurigen Gewißheit,
daß wir kkins Einfluß haben, die Regierung dahin zu lenken,
wohin wir sie haben wollen. Hierzu treten noch die Angriffe, welche
die verschiedenen Strömungen benutzen, um unsere varlamentarische Thäti r
zu verkleinern, und wie sie von der Regierung selbst unternommen wer
Aber der Appel des Reichskanzlers soll nicht vergebens gewesen sein, und wir
werden, so lange unsere Kraft reicht, unsere Dienste zu Gebote stellen; der
Neichskanzler aber mag überzeugt sein, daß wir weder aus theoretischen Ge-
lüsten, noch aus vorübergehender Unkenntniß seiner Verdienste und der That-
sache, daß er steis die Seele der Regierung ist, handeln, wenn wir dennoch
lauben, es könne nur dann ein befriedigendes Verhältniß hergestellt werden,
wenn für die einzelnen Departements solche Personen bestellt werden, die mii
politischen Kräften und eigener Verantwortlichkeit für sich selbst ein-
treten können und nicht bloß von dem überlegenen Lichte des Reichskanzlers
beschienen werden. (Beifall.) Fürst Bismarck: Ich will mit dem Vorredner