90 Des brallchr Reich und seine rinzelnen Gliedrr. (April 13.)
Abg. Hönel: Es ist mir berichtet worden, als ob mein Antrag, das
Schreiben des Reichskanzlers vom 11. zur Erörlerung im Neichstage zu brin-
gen, von dem Herrn Reichskanzler sehr übel empfunden und geradezu als
eine Demonstration, als eine Art Oppofition gegen seine Person betrachtet
worden sei. Ich halte diese Notiz für unrichtig. Ich habe das Vertrauen,
daß der Reichskanzler, wie er das volle Gefühl hat für die Erhabenheit der
Krone und für seine eigene Machtstellung, so auch ein volles Verständniß hat
für Das, was ich ungescheut nenne: die Würde der Vertretung des deutschen
Volkes und das constitutionelle Recht dieser Versammlung. Es sind mancherlei
Gründe, welche eine Besprechung dieses Schreibens des Reichskanglers dringend
ersordern. Ein solcher Grund ist vor Allem das tiefe Gefühl der beschei-
denen Stellung, welche die deutsche Volksvertretung heute noch einnimmt.
(Sehr wahr!) Es ist die Ueberzeugung, daß wir in der That in unserer
parlamentarischen Entwickelung uns noch in einem embryonalen Stadium be-
finden. Das Gesuch des Reichskanzlers um seinen Abschied ist gestellt worden
fast genau in dem Augenblick, wo der Reichstag in die Ferien ging; die
hanze Entscheidung ist getroffen worden während der Zeit, wo der Reicsag
nicht versammelt war. Als wir hier wieder zusammentraten, da standen wir
einfach vor abgelaufenen Thatsachen. Also während einer Verhandlung, die
das innerste Getriebe unserer politischen Entwickelung berührte, stand die Ver-
tretung des deutschen Volkes vollkommen seitab. Ich bin weit entfernt davon,
das hohe persönliche Vertrauensverhältniß, welches zwischen der Krone und
ihrem Rathgeber herrscht, irgend wie und an irgend welchem Punkte zu unter-
schätzen. Im Gegentheil, ich habe den vollen Eindruck, daß die Stetigkeit,
die Sicherheit, die Unberührtheit dieses Vertrauensverhältnisses von allen
kleinlichen Wendungen des Neides und der Ueberhebung und was Sie sonst
wollen, noch spaterhin ein leuchtendes Beispiel echter Regententugend in den
Annalen der deutschen Geschichte bilden wird. Aber gerade, weil ich von
dieser Hochschätzung ausgehe, kann ich es nur als eine Depravirung empfinden,
wenn man es versuchen wollte, dieses Verhältniß auf das Niveau der Hof-
etiquette oder eines ausschließlich intimen Verhältnisses innerhalb der Bureau-
kratie zu stellen. Nein, m. HH., jedes ausgebildete constitutionelle Staatswesen
hat die Sitte und die Form gefunden, durch welche gerade bei solchen Krisen,
wie sie die Kanglerkrisis bedeutet, die Krone die Fahlung mit der Vertretung
des Bolkes nicht verloren hat und nicht verlieren darf, und durch die der
Volksvertretung oder doch mindestens der Majoritätspartei und ig Führern
der entsprechende Einfluß auf die Lösung einer solchen Krisis gesichert bleibt.
Davon aber war bei uns keine Rede, und Das eben nenne ich die beschämend
bescheidene Stellung der Vertretung des deutschen Volkes. M. . werfen
Sie den Blick auf unsere auswärtigen Verhältnisse! Es ist gewiß, daß in
diesem Augenblicke #uieef und Frieden in der orientalischen Frage auf einer
Todeispite stehen. Welche Combinationen, welche Folgerungen aus dieser
Thatsache hervorgehen, Niemand von uns ist in der Lage, dies zu übersehen;
aber Das wissen wir allerdings gewiß, daß in derartigen Augenblicken nichts
schädlicher und nichts an sich Feh ist, als der Wechsel in der ober-
sten Leitung der Politik; doppelt schädlich für uns, weil wir immerhin noch
eine junge Macht in dem europäischen Concert sind, und weil wir das Ver-
trauen zu einer starken, energischen und stetigen Führung in unserer äußeren
Politik haben. Freilich auch hier werden wir sofort auf einen bescheidenen
Standpunkt zurückgeworfen. Wir sind nicht in der Lage, uns ein urtheil
zu bilden auf Grund sicherer Insormationen, wie sie täglich dem lischen,
italienischen und österreichischen Parlamente gegeben werden; wir haben un-
fere Informationen wesentlich aus den Nchcchten R oͤpsen, die wir ubr
ie Stellung anderer Staaten zu unserer Politik empfangen, und