Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Rußland. (Dec. 10--31.) 451 
eine friedliche Entwicklung unseres theuren Vaterlandes auf dem gesehlichen 
Wege sehen zu können. Nur auf einem solchen Wege kann die künftige 
Macht Rußlands garantirt werden, welche Euch wie mir theuer ist.“ 
10. December. Der Minister des Innern Timatscheff wird 
entlassen und interimistisch durch Makoff ersetzt. 
11. December. Demonstration von Studenten vor dem Palais 
des Eußsüriten Khmonsolgere. 
ee Zahl der Studenten beträgt mehr als 200, alle bewaffnet, die 
einen * gisoolvern oder Pistolen, die anderen mit Söbeln oder Karbatschen, 
in deren Enden sich Bleikugeln befinden. Die Volkemenge, welche sich den 
Studenten anschließt, besteht aus mindestens 8000 Menschen. Vor dem Pa- 
last des Throufolgers angelangt, schreit einer der Studenten mit Stenlor= 
stimme: „Als Entsandle des russischen Volkes wünschen wir eine ersassung, 
Darauf brüllt die Menge: „Es #e die Verfassung! Es lebe die Freiheit!" 
Nieder mit dem Despotismus! Es lebe der Thronfolger!" Die auf dem 
Plat erschienenen Poligisten und Gendarmen sind nicht im Stande, die Menge 
zu zerstreuen. Einige Poligisten drohen den an der Spiße stehenden Stu- 
denten mit Verhaflung. Sie werden entwaffnet und mit Stöcken angegriffen. 
Einem Hörer der Philosophie spaltet hierauf ein Polizeisoldat den Schädel. 
Dadurch wird das Volk wild; es dringt auf den Führer der Polizeisoldaten, 
Puchatscheff, und auf den Polizei- Inspector Towtrin ein und beide werden 
lebensgefährlich verwundet. Der Student ist bereils gestorben und Nachis 
im Stillen begraben worden. Man glanbt, es werde über St. Petersburg 
und Umgebung der Belagerungsstand verhängt werden. Die Abüicht der 
Studenten war, dem Großfürsten eine Pelition zu übergeben. 
Die „Moskauer Ztg.“ schreibt über die Sludentennuruhen: „Alltäg- 
liche Esscheinnnden bezeugen einen erstannlichen Zustand der Erschütlerung 
unserer höheren Lehranstalten. Gestern wird dem Nector ein Stein an den 
Kopf geschlendert, heule wird ein Curator fast am Kragen zum Hause hinaus- 
geworfen; dort wird ein anspruchsvoller Examinator die Treppe hinab be- 
fördert, hier ein Professor mit Lärm und Pfeisfen aus dem Anditorium ver- 
trieben. Es wird für Unterzeichnung von Adressen agitirt (kürzlich fand 
eine Tadelsadresse an Professor Zitowitsch in der medico-hhirurgischen Aca- 
demie bis 600 Unterschriften), es werden gemeinschaftliche Sendschreiben ver- 
faßt, Emissäre abgesandt, um unter der Lockspeise kameradschaftlicher Soli- 
darität bei guter Gelegenheit einen allgemeinen Widerstand zu organisiren."“ 
In Petersburg wird die Lage als sehr ernst betrachtet. Thatsächlich herrscht 
dort der Belagerungszustand. Im Laufe der letzten Woche sind über 100 
Personen verhaftet worden, von denen sich viele in einer angesehenen gesell- 
schaftlichen Stellung besinden. Revolutionäre Flugblätter tauchen überall 
in der Stadt auf. Der Stadlpräfect hat einen Befehl erlassen, welcher alle 
diejenigen, welche im Besite von Waffen betroffen werden, mit strengen 
Strafen bedroht. Die Bewegung erstreckt sich auf einen großen Theil der 
besseren Classen. Es ist das Gerücht verbreitet, daß eine zeitweise Shhliehung 
der Universitäten und höheren Lehranstalten beabsichtigt sei. 
  
17. December. Die russische Gesandtschaft wird von Kabul 
abberufen: Rußland läßt Schir Ali desinitiv im Stich. 
31. December. Der Reichsrath hat die von dem Finanz- 
minister vorgeschlagenen neuen Steuertaxen genehmigt. Diefelben 
20“
	        
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