236 Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oct. 1.)
Ohune Zweifel bildet der Tag für Deutschland ein Moment von großer
nicht bich culturhistorischer, sondern auch politischer Vedeutung, ein Moment,
das in hervorragender Weise dazu augethan ist, einen ehernen Reif zu bilden,
der dem jungen Neich mit Halt und Festigleit geben soll. Nichts hält die
einzelnen Glieder eines Staatskörpers besser zsammen, als die Gemeinsam=
keit der Anschauungen, Culturgrundlagen und Lebensgewohnheiten. In voller
Erkenntniß dieser Wahrheit hat der deutsche Reichskanzler vom ersten Augen-
blick au sein Hauptbestreben darauf gerichlet, solch gemeinsame Lebensgewohn-
heiten und Culturgrundlagen zu schaffen, die stärker als reflectirender Ver-
stand allein die Völker und Generationen an den Reichsgedanken fesseln sollen.
So erhielt Deutschland das einheitliche Maß und Gewicht, die einheitliche
Münze, ein gemeinsames Strasgesetzbuch, gemeinsame Gewerbeordnung u. s. w.,
und so beginnt mit diesem Tage die Aera einer neuen, auf gemeiniamer Sa#s
errichteten Iustizreform. Vor neu verfaßten Gerichten erfolgt die Rechts-
sprechung durch's ganze Reich nach gleichen Normen, nach gleichem Geist und
gleichen Formen, und über dem Ganzen steht als Wächter und Schirmer des
Rechts das oberste Reichsgericht in Leipzig. Ein großartiger Gedanke ist
damit verwirklicht. Zur vollständigen Nechtseinhet sehlt nur noch das bür-
gerliche Recht, dessen Wollendung jedoch gleichfalls in naher Aussicht steht.
Im allen deutschen Reiche gab es keine Rechtseinheit. Es existirten zwar
Reichsgesetze, 4. B. die Carolina, welche der Rechtsungleichheit in den deut-
schen Territorien abzuheljen bestimmt waren. Allein da sie die Particular=
rechle beslehen ließen, blieben sie immer nur sog. fubsidiäres Recht. Dazu
kam, daß seit Milte des-vorigen Jahrhunderts zuerst die mächtigeren, dann
die kleineren Reichsstände die Reichsgesetze allmälig ganz aufhoben. Jedes
Ländchen hatte seine eigenartige Gesetzgebung. So bestanden im deutschen
Reiche bis zum heutigen Tage 18 verschiedene Strasprozeßordnungen. Eine
noch größere Mannigfaltigkeit besland in dem bürgerlichen Recht. Ist es
doch allbelannt, daß viele Städte, Flecken, ja Häuser bei uns ihre eigenen
Rechte haben. Dieser bunte Zustand in der deutschen Gesetzgebung wurde
selbst dem ehemaligen deutschen Bundestage zu viel. In seiner Siyung vom
12. August 1861 sprach er jeine Ansicht über die Nothwendigkeit einer gern
meinsamen Civil= und Criminalgesetzgebung mit den Worten aus: „
eine schon oft wiederholte und ausgemachte Wahrheit, dant ver egorsuist
eines Volkes in seinen Gesezen und in dem Verhältniß derselben zum Leben
besteht, und daß ein Volk nur in dem Maße eine Einheit bildet, in welchem
gemeinsame Gesezgebung es verbindet, und daß ein Volt, welches mit seinem
eigenen Rechte nicht vertrant, im eigenen Hause fremd und zersplittert ist.
Das Bedürfniß nach innerer Einheit des Rechts reicht so weit als die Ge-
schichte Deutschlands, und wenn diese Einheit durch unglückliche Zeitereignisse
auch vielfach beeinträchtigt und gehemmt wurde, so ist das Bewußtsein der
Nothwendigkeit doch niemals verschwunden.“ Gleichwohl blieb diese Ansicht
nur ein frommer Wunsch; der deutsche Bund vermochte es nicht, ein einheit-
liches Recht zu Stande zu bringen. Erst dem deutschen Reiche sollte dieß
gelingen. Die Verfassung des norddenischen Bundes enthielt im Art. 4 Nr. 13
die Bestimmung, daß die gemeinsane Gesetzgebung über das Obligationenrecht,
Strafrecht, Handels= und Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren der
Beaufsichtigung Seitens des Bundes unterliegen soll. Diese Vorschrift ging
in die Verfassung des deutschen Reiches über, in Folge dessen das miiller-
weile vom norddeutschen Bunde ausgearbeitete und im J. 1870 eingeführte
Sioafgesehbuch els- solches für das deulsche Reich am 1. Januar 1872 in's
Leben krat. Mit W—nN“! vom 20. Dezember 1878 wurde die Reichsver-
fassung dahin Wu escher aß die gemeinsame Gesegebung über das ge-
sammle bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren der
S
2