238 Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oct. 1.)
treter im Bundesrathe, vorerst freilich nur mit berathender Stimme.
An der Spitze des Landes sleht fortan als kaiserlicher Statthalter
der Feldmarschall von Manteuffel.
Langsam aber siletig entwickelt sich die slaatsrechtliche Gestaltung Eljaß=
Lothringens innerhalb des deutschen Reichsverbandes. Mit dem heutigen Tage
beginnt die vierte Phase dieses Forkbildungs-Processes und zwar unter An-
zeichen. welche man als günstig erachten kann. Nach der Annexion bestand
die Dictatur; sie war schroff und unerbiltlich, denn es galt, die Bevölkerung
der zurückgewonnenen Provinzen au einen Schicksalswechsel zu gewöhnen, der
um so empfindlicher war, als er keineswegs eine Verbesserung der materiellen
Verhällnisse involvirte. Unter frangösischem Regimente waren die Elsaß-
Lothringer gewissermaßen tendenziös verhätschelt worden; die rauhe preußische
Jacke saß ihnen unbequrm, und da in ihrem Naturell für ideelle Empfind-
ungen nur geringer Spielraum vorhanden ist, jo reagirten sie mit geräusch-
voller Harlnäckigleit gegen die neue Ordunug der Dinge. Zwei Jahre nach
der Einverleibung —= am 25. Juni 1873 — erfolgle sodann die Ausdehnung
der Neichsverfassung auf Elsaß= Lolhringen, welche zur Folge hatte, daß
reichsländische Abgeorduete die Interessen ihrer Heimath in Verlin parla-
mentarisch zu vertreten in den Stand gesetzt wurden. Da ergab es sich denn,
daß das Mißvergnügen der Anneclirten in aller Stärke forldauerte, und es
schien angesichts der Weh= und Anklagen, welche die Deputirten aus Meh
und Straßburg auf der Tribüne des Reichstages erhoben, daß noch sehr viel
Wasser den Rhein hinunterlaufen müsse, bis sich Germania's alt-nene Kinder
an die lange entbehrte Multer gewöhnt haben würden. Man schus ihnen
durch Erlaß vom 29. October 1874 den Landesausschuß, eine einheimische
Vrrtzeimng mit berathendem Votum; man ließ Milderungen in der Oplious=
frage eintreten; es nühte nicht viel. denn das Widerstreben nahm nicht ab.
Da entschloß man sich in Verlin im Jahre 1877, den Landesausschuß zu
einem gesetzgebenden Factor zu erheben, und seitdem war ein Umschwung
nicht zu verkennen Allmälig erhielten die Forderungen eine bestimmte Ge-
stolt; die autonomen Bestrebungen waren in ein regelmäßiges Bett geleitet,
und als unerläßlich bezeichneten die Deputirten von der Ill und Mosel zu-
nächst nur die Verlegung der Landesregierung von Berlin nach Strahburg,
sowie die Zulassung eines reichsländischen Mitgliedes in den Bundesrath. —
Diese Forderungen sind von heute ab zum Theile erfüllt. Ein Statthalter
in der Person des Feldmarsehalls Edwin v. Manteuffel hat heute seine Ne-
sidenz in Straßburg aufgeschlagen; ein Staatssecretär in der Person des
Ministers Herzog führt an Stelle des bisherigen Ober-Präsidenten v Möller
die Geschäfte im Lande selbst und nicht mehr von der Berliner Reichskanglei
aus; ein Slaatsrath, bestehend aus dem Statthalter, dem Staatssecretär,
den Unter-Staatssecretären, dem Präsidenten des Ober-Landesgerichtes, dem
ersten Beamten der Staatsanwaltschaft und acht bis zwölf vom Kaiser er-
nannten Mitgliedern, fungirt als begutachtende Vahoshe und soll eventuell
zu einer Art erster Kammer im Bedürfnißfalle erweitert werden. Es ist
kein Riesenschritt im Sinne antonomer Verwaltung, der sich in diesen Ver-
änderungen manifestirt, aber es ist immerhin eine Verbesserung, welche der
Anerkennung nicht unwerth zu sein scheint.
Mit der Führung der berathenden Stimme für Elsaß-Lothringen im
Vundesrathe ist der zum Ministerialrath in Straßburg ernannte bisherige
Reichstagsabgeordnete für Zabern, August Schneegans, betraut worden; der-
selbe scheidet damit aus dem parlamentarischen Leben. Am 9. März 1835
geboren, war er 1871 für einen ostfranzösischen Wahlkreis Deputirter der