Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 29—30.) 289
so wäre dieß eine bedenkliche Aufmunterung zur Auflehnung und zur Zer-
trümmerung der Staatsordnung. Auf der Wahrnehmung, welche die Re-
gierung zu machen geglaubt hat, daß die Kirche ihre staare Haltung aufgebe,
beruht die Hoffnung auf Herstellung des Friedens. Ist diese Wahrnehmung
eine Täuschung, so weiß sich die Regierung von aller Verantwortlichkeit
frei, denn sie ist bis an die äußerste Grenze zulässiger Nachgiebigkeit ge-
gangen.
29. November. (Bayern.) II. Kammer: der Finanzminister
v. Riedel legt derfelben vier Gesetzentwürfe über die Einkommen-=
steuer, die Capitalrentensteuer, die Gewerbsteuer und über einige Ab-
änderungen an den Bestimmungen der Haus= und Grundsteuergesetze
vor. Hierdurch sollen theils die angeregten Reformen des directen
Steuerwesens eingeführt, theils Verbesserungen vorgenommen werden.
Der Minister motivirt die Gesetzentwürfe in längerer Rede. Der
Schwerpunct liegt in dem Entwurfe über eine allgemeine Einkommen-
steuer. In Betreff der Behandlung der Entwürfe überläßt der Mi-
nister die Entscheidung dem Hause.
30. November. (Deutsches Reich.) Der russische Staats-
kanzler trifft auf der Reise von Baden-Baden nach St. Petersburg
in Berlin ein und wird vom Kaiser so wie vom Kronprinzen em-
pfangen. Der Reichskanzler bleibt in Varzin.
30. November. (Bayern.) Eine Versammlung von Dele-
girten der bayerischen Gewerbe= und Handelskammern beschließt die
Veranstaltung einer allgemeinen Landesindustrieausstellung für das
Jahr 1882 und zwar in Nürnberg. München bleibt in der Minderheit.
— November. (Deutsches Reich.) Der bayerische Reichs-
tagsabgeordnete v. Schauß, eines derjenigen Mitglieder der nat.-lib.
Partei, welche sich im Reichstage in der Zoll= und Steuerfrage von
der Partei getrennt und consequent mit der Majorität für Schutzzölle
eingetreten waren, rechtfertigt seine damalige Haltung seinen Wählern
gegenüber in folgender Weise:
„Für Deutschland war gegenüber dem Auslande die Zollfrage wesent-
lich mit eine Machtfrage; Deutschland aber muß dem Auslande gegenüber
mächtig sein, um unabhängig sein zu können. Wenn man aber Oesterreich
nicht bei dem Korn, Frankreich nicht bei dem Weine fassen kann, dann ist
die Position der deutschen Regierungen bei den Zollverhandlungen in einer
ziemlichen schlechten Lage. Endlich aber verlangte der Zustand der deutschen
Landwirthschaft gebieterisch eine Abhilfe. Die Einfuhr von fremdem Getreide
von circa 449,000 Tonnen des Jahres 1877 ist in den einem Jahre bis
1878 auf 1,261,472 Tonnen gestiegen. Es ist richtig, daß Friedrich List Korn-
zölle verwarf und den nationalen Wohlstand wesentlich in der Industrie
suchte; aber heutzutage würde auch er wahrscheinlich für einen kleinen Korn-
goll gestimmt haben. Die Befürchtung einer Hungersnoth in Folge von
Hemmungen des Kornhandels aber hat nur dann einen Sinn, wenn auf der
Schulthess Gurop. Geschichtskalender. XX. Bd. 19