Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zwanzigster Jahrgang. 1879. (20)

Erankreith. (Juli 20.) 415 
sagen, daß Heinrich V. lebhaft wünsche, nach Frankreich zu kommen. 
Auf eine an ihn gerichtete Adresse antwortet Graf Chambord in 
einem Briefe an de Foresta: 
„Sie kennen mich zu gut, um nicht zu errathen, mit welcher Rührung 
ich die Adresse der treuen Marseiller gelesen habe. Der Bericht über Ihre 
Feste ist mir soeben zugegangen. Ich habe alles selbst gelesen, und geprüft, 
nichts ist mir entgangen, keine Zeile, kein Name, und ich weiß nicht, wie 
ich der Vorsehung genug danken soll, welche dieses Erwachen i— un Herzen 
und Gemüthern, diesen edelmüthigen Anfschwung, zugelassen hat, vermöge 
dessen ich aus allen Theilen Frankreichs die stolzesten Proteste gegen die Be- 
drückung der Gewissen und die Vernichtung unserer theuersten Freiheiten 
empfange. Jumitten so hroßen Trostes bedaure ich nur das eine, daß ich 
nicht, wie ich gern möchte, einem jeden einzeln den Ausdruck meines Dankes 
zukommen lassen kann. Ganz besonders will ich aber Ihnen für eine Stelle 
in Ihrer Nede danken, die mir recht zum Herzen gegangen ist. In einer 
freimüthigen Aufpielung auf unsere jüngite Geschichte haben Sie in ver- 
dienter Weise einen beleidigenden Sah abgefertigt, welcher, Dank der Perfidie 
der einen und der Leichtgläubigkeit der anderen, die öffentliche Meinung nur 
allzu. lange irre geführt hat. Man hat bis zum Ueberdruß wiederholt, daß 
ich eine wunderbare Gelegenheit, den Thron meiner Väter zu besteigen, muth- 
willig von mir gewiesen habe. Ich behalte mir vor, sobald es mir gefallen 
wird, volles Licht über die Ereignisse von 1873 zu verbreiten, daute Ihnen 
aber noch einmal, daß Sie gegen einen solchen Verdacht mit der gebührenden 
Entrüstung protestirt haben. Sie hätten hinzufügen können, weil es wahr 
ist, daß die Rückkehr der angestammten Monarchie den Münschen der großen 
Mehrheit entiprochen hätte, daß der Arbeiter, der Handwerker, der Landmann 
sich mit Recht von ihr den friedlichen Genuß des werkthätigen Lebens ver- 
sprach, dessen Süßigkeit so viele Geschlechter ehedem unter der väterlichen 
Hoheit eines Familienhauptes gekannt haben, daß, mit einem Worte, der 
Bauer einen König von Frankreich erwartete, während die polilischen Ränke- 
schmiede beschlossen, ihm einen Hausmaier (maire du palais) zu geben. Wenn 
ich im Angesichte des anfmerksamen Europa, unmiktelbar nach beispiellosen 
Unglücksschlägen, tnich desto mehr auf die königliche Würde und die Größe 
meiner Mission bedacht zeigte, jo geschah es, wie Sie wohl wissen, um 
meinem Schwure treu zu bleiben: hirnals der König einer Fraction oder 
einer Partei sein zu wollen. Nein, die Vormundschaft der Männer der 
Fiction und Ulopie werde ich nicht über mich ergehen lassen; aber ich werde 
nicht aufhören, die Mitwirkung aller rechtschaffenen Leute anzurufen und, 
wie Sie vortresflich gesagt haben, „mit dieser Kraft ausgerüstet und mit 
Gottes Guade“ kann ich Frankreich retten — ich soll es und ich will es.“ 
Der Brief des Grafen Chambord wird von den liberalen Blättern 
aller Schattirungen Sine ira ct stuclio mit einigen mitleidigen Bemerkungen 
abgefertigt. Daß der Prätendent jetzt den Marschall Mac-Mahon, welchen 
er früher den Ritter Bayard der Gegenwart nannte, als einen herrschsüchtigen 
Intriganten hinstellt und mit dem Major-Domus der merovingischen Dynastie 
vergleicht, daß er die H]. Chesnelong und Genossen, die Frömmsten der 
Frommen, der Treulosigkeit und Ränkesucht beschuldigt, mußte freilich im 
republikanischen Lager einige Heiterkeit und Schadenfreude erregen, aber der 
Graf Chambord hat die besondere Gabe, für seine Demonstrationen immer 
den erdenklichst ungeigueten Augenblick zu wählen. So haben auch jetzt Re- 
hierung und Land waheiih andere Sorgen, als die Frage, ob im Jahre 
1878 die Restauration des Königthums möglich war oder nicht. 
 
	        
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