602 Nebersicht der politischen Entwichlang des Jahres 1879.
lichen Meinung war im Ganzen eine gedrückie, zumal die Ver-
haftungen und Deportationen jetzt ebenso massenhaft als willkürlich
erfolgten, die der Regierung aber eine gereizte und bittere.
Angrisse Und es scheint, als ob es diese gereizte Stimmung der Re-
1.I%. gierung gewesen sei, welche sich, da alle Mittel, der unheimlichen
land. Bewegung im Innern Herr zu werden, sich als unzureichend er-
wiesen, in verhängnißvoller Weise auf das Ausland und zunächst
auf Deutschland ablud. Es ergab sich das aus der Sprache der
Presse und zwar der offiziösen wie der angeblich ganz selbstständigen;
denn wenn auch die Blätter St. Petersburgs und Moskaus keiner
vorgängigen Censur mehr unterliegen, so steht doch thatsächlich fest,
daß sie wenigstens nicht auf die Dauer eine Sprache führen können,
die den Intentionen der Regierung widerspricht. Nun war es
längst bekannt, daß schon seit mehreren Jahren, namentlich aber seit
dem Verliner Congresse zwischen dem russischen Staatskanzler und
dem deutschen Reichskangzler eine tiefe VBerstimmung eingetreten war,
weil jener der Meinung war, daß dieser als Präsident des Con-
gresses Rußland nicht so entgegen gekommen sei und die russischen
Interessen nicht so gefördert habe, wie jener es erwartet hatte. Die
Verstimmung ließ sich nicht beheben und die beiden Kanzler wurden
seither allgemein als perfönliche Gegner angesehen. Doch mochte
dieß die Regierungen als solche nicht berühren und die beiderseitige
Presse mußte dadurch nicht nothwendig influenzirt werden. All-
mälig jedoch änderte sich dieß und zwar in steigendem Grade. Den
ersten Anlaß dazu gab gleich zu Anfang des Jahres 1879 das
Auftreten der Pest im Gouvernement Astrachan. Europa konnte
gegen die ungeheure Gefahr unmöglich gleichgültig sein. Alle um-
liegenden Staaten ergriffen die erforderlichen Vorsichts= und Absperr-
Maßregeln und zwar unter der Leitung Deutschlands. Diese Maß-
regeln waren für den russischen Handel allerdings sehr unbequem
und verursachten ihm materiellen Schaden; indeß sie waren an sich
nur berechtigt und Nußland konnte sich mit Fug darüber kaum be-
klagen. Allein es lag darin zugleich ein gewisses Mißtrauen in die
Versicherungen und in die Anordnungen- Rußlands, das nur zu be-
gründet war, das aber von der russischen Regierung schwer em-
pfunden wurde und die russische Presse sprach sich darüber sehr un-
gehalten aus. Dabei blieb sie jedoch nicht stehen. Die Angriffe
auf Deutschland und die deutsche Regierung wurden bald allgemeiner
und klagten über den „Verrath“ des deutschen Reichskanzlers, der