606 Nebersicht der polilischen Eulwichlung des Jahres 1879.
sah, Deutschland aus dem Verhältniß zu Oesterreich, dem es ent-
wachsen war, gewaltsam loszulösen. In der That, wenn etwas
groß ist in der auswärtigen Politik des großen Kanzlers, so ist es
die Unbefangenheit, mit der er den Dingen auf den Grund sieht,
die Ruhe, mit der er seine Entschlüsse lange vorher überlegt hat,
die Geduld, mit der er die Dinge und seine Stellung zu denselben
reifen läßt, ebenso sehr, als die Raschheit und Sicherheit, mit der
er wie ein Wetterstrahl zur Ausführung schreitet, wenn sie reif sind
— das Maßvolle seines Charakters bei aller Heftigkeit des Tem-
peraments. So ging er schon damals, als er bei Königsgräh
Oesterreich niedergeworfen hatte, auch um keinen Schritt weiter, als
es für seinen Zweck nöthig war und reservirte sich und Deutschland
Oesterreich für die Zukunft. Das Verhältniß zwischen beiden blieb
denn auch nicht lange ein gespanntes und dauerte als solches nicht
über den französischen Krieg hinaus. Von da an wurde es freundlich
und Schritt für Schritt ein immer näheres. Oesterreich gab Deutsch-
land einen Beweis davon, als es Ende 1878 oder Anfang 1879
darein willigte, auf die Clausel des Prager Friedens bezüglich Nord-
schleswig ohne Gegenleistung zu verzichten, wodurch der bisherigen
dänischen Agitation in jenen Gegenden der Boden entzogen und ein
besseres Verhältniß zwischen Dänemark und Deutschland ermöglicht
wurde. Immerhin war von den Beziehungen guter und freund-
licher Nachbarschaft bis zu einem ausgesprochenen und in einem
Schriftstück niedergelegten, also doch in irgend einer Weise näher
präcisirten engeren Einverständniß noch ein großer Schritt und dieser
Schritt war jetzt gethan. Die bisherige sog. Dreikaiser-Allianz ging
nicht über ein Einverständniß von Fall zu Fall hinaus, diese neue
Allianz Deutschlands und Oesterreich-Ungarn war ersichtlich eine
engere und bestimmtere, von vornherein auf die Dauer, nicht nur
für einen, sondern für alle oder doch für eine Reihe möglicher Weise
eintretender bestimmter Fälle berechnet. Die europäische Sachlage
wurde dadurch mit Einem Schlage ganz wefentlich verändert. Durch
den festen Zusammenschluß der beiden großen Militärmächte in der
Mitte Europas wurde innerhalb der unsicheren und schwankenden
Beziehungen der entscheidenden Großstaaten unter einander ein Schwer-
gewicht geschaffen, das Rußland augenblicklich vollständig isolirte,
Oesterreich gegenüber Rußland bezüglich der Balkanhalbinsel und
seiner panflavistischen Aspirationen überhaupt einen zuverlässigen
Rückhalt bot, Deutschland aber eine gewisse Sicherheit gegenüber