Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zwanzigster Jahrgang. 1879. (20)

Uebersicht der polilischen Entwicklung des Jahres 1879. 615 
sich allein geboten weder die Conservativen noch die Liberalen noch 
die Ultramontanen über die Mehrheit im Abgeordnetenhause des 
Landtags und diese Mehrheit konnte ebenso gut durch eine Verbin- 
dung der Conservativen mit den Nationalliberalen, als durch eine 
solche zwischen den Conservativen und den Ultramontanen hergestellt 
werden und es scheint, daß der Reichskanzler das erstere dem letz- 
teren vorgezogen hätte, da er wohl wußte, daß die Ultramontauen 
ihm ihre Unterstützung jederzeit nur unter Bedingungen oder doch 
Voraussetzungen zu gewähren gewillt waren, welche er seinerseits 
einzugehen ganz und gar keine Lust hatte. Die Conservativen, Alt- 
und Neuconservativen, die sich alsbald in Eine Fraction verschmolgzen, 
fühlten sich indessen mehr zu den Ultramontanen hingegogen als zu 
den Nationalliberalen und so wurde denn, nach der Eröffnung des 
Landtags durch eine ziemlich farblose Thronrede des Kaisers am 
28. Oktober, nicht, wie der Reichskanzler gewünscht haben soll, 
v. Bennigsen, sondern der conservative v. Köller zum Präsidenten ge- 
wählt und ihm auch wieder wie im Reichstage ein Ultramontaner, 
v. Heeremann, als Vicepräsident beigegeben. Die Haupttractanden des 
Landtags waren das Budget für 1880,81, der Ankauf von vier der 
größten Privateisenbahnen für den Staat und die Weiterführung 
der Verwaltungsreform. Das Budget wurde ohne allzu große Dif- 
ferenzen erledigt, obgleich es sofort zu Tage trat, daß die Entlastung 
der Einzelstaaten und also auch Preußens bezüglich der Matricular- 
umlagen vorerst nur eine sehr theilweise und sogar sehr geringe sei, 
solange die vom Reichstage bewilligten Steuern und Zölle noch 
nicht in ihren vollen Ertrag eingetreten sein würden. Die Bera- 
thung über die Fortlführung der Verwaltungsreform nach den Vor- 
lagen des Ministers v. Eulenburg wurde erst nach Neujahr in An- 
griff genommen. Die Hauptaufgabe der Session war offenbar die 
Entscheidung über die Frage des Staatsbahnsystems durch den all= 208 
mäligen Ankauf aller wichtigeren Privateisenbahnen nach dem Wunsche Sa- 
des Reichskanzlers und Ministerpräsidenten. In dieser Frage konnte ##en. 
er nicht auf die Unterstützung der Ultramontanen rechnen, obgleich 
eigentlich nicht einzusehen ist, warum sie in der Staatsbahnfrage 
ihm nicht eben so gut sollten zustimmen können, als in der Frage 
des Schutzzollsystems. Sie wollten es einfach nicht, weil der Reichs- 
kangler ihnen in der kirchlichen Frage nicht entgegen kam, wie sie 
es offenbar zuversichtlich erwartet hatten, als sie ihm im Reichstage 
ihre Unterstützung liehen. Dagegen traten jetzt die Nationalliberalen,
	        
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