112 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 28—29.)
dem Actenstück, was hier vor mir liegt, nur unvollkommen skizzirt und ich
habe darauf gerechnet, daß die Discussion sowohl über diese Gesetze als
auch später über das Unfallversicherungsgesetz die Gelegenheit geben werde,
diese Skizze weiter auszuführen. Material für die Kritik ist ja, wie ich
das eben gesehen habe, schon hinreichend vorhanden. — Wenn ich mich des
Ausdrucks „Reichsregierung“ wiederholentlich bediene, so muß man sich dar-
über verständigen, was der zu bedeuten hat. Eine Reichsregierung im Sinne
der Landesregierung haben wir nicht; ich verstehe — und ich acceptire den
Ausdruck nicht seiner logischen Richtigkeit wegen, sondern seiner Kürze wegen
— unter „, Reichsregierung“ nenne ich den „Stab des Präsidiums“, also die
Beamten des Kaisers, den Kanzler mit allem, was zu seinem Ressort gehört,
aber ich begreife darunter nicht den Bundesrath; wenn ich von dessen Be-
schlüssen spreche, so würde ich mich des Ausdrucks „verbündete Regierungen“
bedienen, die in höherer Potenz die Reichsregierung bilden, namentlich so-
weit es sich um die Legislative handelt, und bei dem erwähnten Bündel von
Beamten ist ja nur die Executive und eine gewisse nothwendige Initiative
der Gesetzgebung, insoweit das Präsidium im Bundesrath damit betraut ist;
es liegt mir daran, diesen Ausdruck ein für allemal klarzustellen. Ich habe
von der Rede des Herrn Abgeordneten den Eindruck, daß er eigentlich in
den wesentlichsten Zwecken, die ich verfolge und die die Denkschrift als Ziel
aufstellt, mit mir einverstanden ist, und wenn die Denkschrift von einer an-
deren Seite käme, so würde sie vielleicht eine mildere Beurtheilung erfahren.
Es scheint mir, daß sein Urtheil über die Sache beeinflußt ist durch den
Umstand, daß so zweckmäßige und richtige Ziele von einer Seite aufgestellt
werden, mit der er politisch zufällig nicht im Einklang geblieben ist; ich
möchte sagen: er gönnt uns das nicht, wir werden uns aber dadurch nicht
irre machen lassen, wir werden es ruhig weiter führen. — Der Herr Vor-
redner hat nun zunächst, um die Denkschrift zu kritisiren, weniger ihren In-
halt angegriffen, er hat uns zugegeben, daß die untersten directen Steuern
abgeschafft werden müßten, er hat uns zugegeben, daß gewisse indirecte
Steuern wünschenswerth wären, er hat — worin ich ihm gern recht gebe
— den Tabak und die Getränke als hauptsächlich geeignete Gegenstände zur
indirecten Besteuerung hingestellt — also in dem allen sind wir ja einig
und er hat etwas künstlich die Momente herausgesucht, die uns trennen.
Wenn er bei den Getränken nur den Branntwein und nicht in gleicher
Höhe das Bier accentuirt hat, so kann ich darin nicht mit ihm gehen. Bis-
her ist das Bier in der Besteuerung wesentlich im Rückstande gegen
Branntwein und meines Erachtens sollte das Bier verhältnißmäßig höher
besteuert sein als der Branntwein, denn es ist vergleichsweise das Getränk
einer schon mehr wohlhabenden Classe, der Branntwein aber ist das Getränk
des berühmten armen Mannes, den der Herr Vorredner weit ins Feld ge-
führt hat, und es ist der Branntwein ein Getränk, welches der Arbeiter nicht
immer entbehren kann Ich weiß nicht, ob der Herr Vorredner Gelegenheit
gehabt hat, öfter unter harter körperlicher Anstrengung bei schlechtem Wetter
mehrere Stunden lang im Freien sich energisch zu bewegen und wenn harte
Winde über die Ebene streichen, ich glaube, dann würde er mir zugeben,
daß der Branntwein von Demjenigen, der auf solcher harter Arbeit gewesen
ist, weniger leicht entbehrt werden kann, als das Bier. Ich habe nie ge-
funden, daß der Arbeiter bei der Arbeit, wenn sie schwer wurde, mit baye-
rischem Biere sich erholte, einmal weil er es nicht hatte — es ist das Ge-
tränk des Wohlhabenden im Vergleich mit ihm — und zweitens hilft es
ihm nicht nach Bedarf. Wenn auch der Herr Vorredner es je persönlich
versucht hätte, bei heißem Wetter ein Schwadt auf einer Wiese auch nur
einmal zehn Schritt lang zu mähen, dann würde er, glaube ich, auch einen