Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 28—29.) 119 
unentbehrlich sind, — wenn diese dreifache Besteuerung auf dem Herrn Vor- 
redner lastete und der persönlich in diesem weiteren Kreise contribuabel wäre, 
dann würde er doch vielleicht auch das Gefühl haben, daß es bei den Wahlen 
nicht nützlich sein wird, für Erhöhung der directen Steuern eintreten zu 
wollen. Ich wenigstens kann mich dazu nicht verstehen; ich würde glauben, 
daß die Regierung dann bei den nächsten Wahlen vollständig durchfallen würde, 
wenn sie ein solches  Programm aufstellen wollte. — Ich frage also nur: 
das, was wir brauchen, durch directe oder indirecte Steuern auf- 
gebraucht werden? und bin da nach den Argumentationen, die in der Denk- 
schrift enthalten sind, in keiner Weise zweifelhaft, daß es nur durch indirecte 
möglich ist. Der Herr Vorredner hat bestritlen, daß die indirecten Steuern 
sich ins Niveau setzen, sich vertheilen, mit anderen Worten, daß sie abbür- 
den, direct, oder auch auf dem umgekehrten Wege, so daß jeder das, was ihm 
am nothwendigen Lebensbedarf vertheuert wird, auf die Waare aufschlägt, 
die er selbst herstellt, verkauft, oder auf die Arbeit, die er selbst leistet; ehe 
er überhaupt bezahlte Arbeit annimmt, wird er sehen, daß er dabei zu leben 
hat, und wird seine Arbeit nicht wohlfeiler hergeben, als er dabei bestehen 
kann; es kommt daher in Verhältnissen, die man überhaupt kennt und über- 
sehen kann, nicht vor, daß an Hunger jemand gestorben ist, auch nicht, 
daß jemand diesem Verhältniß nahe gekommen wäre. Wem der Herr Vor- 
redner dergleichen nachweisen kann, würde ich daraus nicht schließen, daß die 
Zölle aufgehoben werden müssen, sondern daß die Gemeinde angefaßt werden 
muß, die ihr Armenrecht so vernachlässigt, und daß die Zollgesetzgebung so 
eingerichtet werden muß, daß die Arbeitslöhne sich erhöhen. Wir sind ja 
alle in der Lage, und zum Theil recht lange, um zu wisen. was uns ein 
Paar Stiefel kostet; ich erinnere mich, daß ich vor 40 bis 50 Jahren für 
ein Paar Stiefel 3 bis 4 Thaler bezahlt habe, heutzutage bekomme ich die- 
selbe Arbeit nicht unter 8, mitunter nicht unter 10 Thalern. Ist nun das 
eine Phantasie des Schuhmachers, ist das eine Erpressung, die er mir gegen- 
über macht, daß er mir 200 pCt. mehr abnimmt, oder eine Abbürdung 
seiner Auslagen: Und nehmen Sie die Ausgaben, die wir alle machen 
müssen: für Kleidung, für Wohnung, — ist das nicht alles in einer Weise 
gestiegen, daß heutzutage die Preise mehr als verdoppelt sind? Woher kommt 
das? Das kommt nur daher, daß der Schuhmacher sagt: ich liefere Ihnen 
ein Paar Stiefeln nicht wohlfeiler wie das, denn wenn ich leben will, muß 
ich so und so viel für mich übrig haben, und kein Mensch wird so einfältig 
sein, darüber weiter zu handeln. jeder wird die Rechnung bezahlen, wie er 
sie für seine Stiefel bekommt. Die Thatsache, daß die Preise für Schuhzeug, 
Kleider auf 200 bis 300 Procent zugleich mit den Bedürfnissen der Hand- 
werker gestiegen sind, wird mir jeder bestätigen, der in meinem Alter ist, 
und zugeben, daß sie sich ganz schlagend gegen die Theorie des Vorredners 
wendet, die die Wissenschaft allerdings  nicht lösen kann, sondern die nur die 
Praxis lösen kann. Nehmen Sie als weiteren Beweis, wie wenig die Steuer 
mit den Preisen der Lebensbedürfnisse zu thun hat. Als die Finanziers in 
den großen Städten den Fehler begingen, die Mahl und Schlachtsteuer ab- 
zuschaffen, da erwartete jedermann, daß Fleisch und Brob wohlfeiler werden 
würden. jeden, der in Berlin damals und jetzt gelebt hat: ist 
das Fleisch jetzt wohlfeiler? Die Preislisten sind ja zu haben, aber eines 
ist ganz gewiß, es ist schlechter. Ich habe vor circa 30, 40 und 50 Jahren 
in Berlin Fleisch gegessen und habe es mit bewußtsein später gegessen  und 
  
ich habe die Ueberzeugung, — ich bin ja ein berechtigter Zeuge 
Nahrung ist schlechter geworden. Ist seit Aufhebung der Mahlsteuer das 
Brod größer geworden wohlfeiler! — Ich spreche von der Zeit, wo 
der „furchtbare Druck“ der Kornzölle noch nicht auf uns lastete, und wo
	        
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