Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 1—4.) 135 
man den Strauß, der den Kopf versteckt, um die Gefahr nicht zu sehen. 
Die Aufgabe der Regierung ist es, den Gefahren, wie sie uns vor einigen 
Tagen von dieser Stelle hier aus beredtem Munde (durch den Minister 
v. Puttkamer in der Sozialistendebatte) mit überzeugenden Belegen geschildert 
wurden, ruhig und furchtlos ins Auge zu sehen, aber auch die Vorwände, 
die zur Aufregung der Massen benutzt werden, die sie für verbrecherische 
Lehren gelehrig machen, so viel an uns ist, zu beseitigen. Nennen Sie Das 
Sozialismus oder nicht, es ist mir Das ziemlich gleichgiltig. Wenn Sie es 
Sozialismus nennen, so liegt natürlich der wunderliche Hintergedanke dabei, 
die Regierung des Kaisers dieser Vorlage der verbündeten Regierungen gegen  
über gewissermaßen in die Schußlinie der Kritik zu stellen, die Herr v. Putt- 
kamer uns hier über die Bestrebungen der Sozialisten darlegte; man sollte 
daran glauben, daß von dieser Vorlage bis zu der Mörderbande von Hassel- 
mann und den Brandschristen von Most und bis zu den Umsturzver 
schwörungen, die uns vom Wydener Congresse enthüllt wurden (Ruf: Oho!), 
daß uns davon nur ein ganz kleiner Raum noch trennt, der allmählich auch 
überschritten wird. Nun, meine Herren, im Gegentheil, Das sind mehr 
oratorische Ornamente, mit welchen man kämpft, die keinen Hinterhalt haben, 
man bedient sich dabei der Vielseitigkeit des Wortes „Sozialismus“. Nach 
Dem, wie die Sozialisten es in ihrem Programm getrieben haben, ist Das 
eine Bezeichnung, die mit „verbrecherisch" in der öffentlichen Meinung bei- 
nahe gleichbedeutend ist. Nun, diese Bestrebungen der Regierung, den ver- 
unglückten Arbeiter in Zukunft besser und namentlich würdiger zu behandeln, 
wie bisher, seinen noch gesunden Genossen nicht das Beispiel eines sozusagen 
auf dem Kehricht langsam verhungernden Greises zu gewähren, Das kann 
man doch nicht in dem Sinne als sozialistisch bezeichnen, wie diese Mörder- 
bande uns neulich dargestellt worden ist, und Das ist ein ziemlich wohl- 
feiles Spiel mit dem Schatten an der Wand, wenn man, „sozialistisch” 
darüber ruft. Wenn der Herr Abg. Bamberger, der ja an dem Worte 
„christlich“ keinen Anstoß nahm, für unsere Bestrebungen einen Namen 
finden wollte, den ich bereitwillig annehme, so ist es der: practisches Christen- 
thum, aber sans phrase, wobei wir die Leute nicht mit Reden und Redens- 
arten bezahlen, sondern wo wir ihnen wirklich etwas gewähren wollen. 
(Bravol rechts.) Aber umsonst ist der Tod. Wenn Sie nicht in die Tasche 
greifen wollen und in die Staatscasse, dann werden Sie nichts fertig be- 
kommen. Die ganze Sache der Industrie aufzubürden, Das weiß ich nicht, 
ob sie Das tragen kann. Schwerlich geht es bei allen Industrien. Bei 
einigen gienge es allerdings; es sind Das diejenigen Industriezweige, bei 
welchen der Arbeitslohn nur ein minimaler Betrag der Gesammt-Productions- 
kosten ist. Ich neune als solche Productionszweige chemische Fabriken oder 
Mühlen, die in der Lage sind, mit einigen 20 Arbeitern bei einem Umsatz 
von einer oder mehreren Millionen ihr Geschäft zu machen; aber die große 
Masse der Arbeiter steckt eben nicht in solchen, ich  möchte sagen, aristo- 
kratischen Betrieben, womit ich aber keinen Classenhaß erregen will, sondern 
sie steckt in denen, wo der Arbeitslohn bis zu 80 und 90 Proc. der Kosten 
beträgt, und ob die dabei bestehen können, weiß nicht. Ob man den 
Beitrag auf die Arbeiter oder die Unternehmer legt, Das halte ich für ganz 
gleichgiltig. Die Industrie hat ihn in beiden Fällen zu tragen, und was 
der Arbeiter beiträgt, Das ist doch nothwendig schließlich zu Lasten des 
ganzen Geschäftes. Es wird allgemein geklagt, daß der Lohn der Arbeiter 
im Ganzen keinen Ueberschuß und keine Ersparniß gestatte. Will man also 
dem Arbeiter zu dem eben noch ausreichenden Lohne noch eine Last aufer- 
legen, ja dann muß der Unternehmer diese Mittel zulegen, damit der 
Arbeiter die Last tragen kann, oder der Arbeiter geht zu anderem Geschäft 
 
	        
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