Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

136 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 1- 4) 
über. Der Herr Vorredner (Abg. Eugen Richter) sagte, gerade Das sei ein 
Mangel des Gesetzes, daß der Grundsatz der Freiheit des Arbeiters von Bei- 
trägen nicht vollständig durchgeführt sei. Er that so, als wenn er gar nicht 
eingeführt wäre, er gilt allerdings nicht für die Arbeiter, die über 750  
Lohn in 300 Arbeitstagen beziehen. Das beruht eben auf der Genesis des 
Gesetzes, daß es so gekommen ist; es stand ursprünglich im ersten Entwurf, 
daß ein Drittel der Beiträge von den Ortsarmenverbänden geleistet werden 
sollte, denen im Falle der Invalidität des Arbeiters seine Ernährung aus 
dem Gesichtspunkte der vom Staate auferlegten Armenpflege zur Last fallen 
würde, und es ist kein Grund, diesen Gemeinden resp. der gesammten 
Armenpflege, denen bisher die 80 Proc, der vom Haftpflichtgesetz nicht be- 
troffenen Verunglückten zur Last fallen, einfach ein Geschenk damit zu machen, 
und deßhalb wurde als der Gerechtigkeit entsprechend der Satz angenommen, 
daß der Armenverband, dem im anderen Falle die Verunglückten zur Last 
fallen würden, ein Drittel tragen solle. Dieses Raisonnement findet aber 
auf Diejenigen, die in ihrem Lohne so hoch stehen, daß sie, wenn sie verun- 
glückten, dem Armenverbande schwerlich zur Last fallen würden, nach ihrer 
ganzen Wohlhabenheit, nicht mit derselben Sicherheit Anwendung. Ich bin 
sehr gerne bereit, diese Beschränkung fallen zu lassen. Es ist schon oft davon 
die Rede gewesen. Nachdem die Gesammtheit des Reichstags aber sich bis- 
her gegen einen Staatszuschuß überhaupt zu meinem Bedauern ausgesprochen 
hat, würde ich damit dem Gesetze auch nicht mehr Stimmen zuführen. Ich 
erkläre indessen, daß die Grenze von 750 ℳ gegenüber der ganzen Theorie, die 
dem Gesetze zu Grunde liegt, kein wesentlicher Punkt ist. Das ist ein 
Billigkeitsgefühl gegen die Armenverbände ursprünglich gewesen, denen man 
keine höheren Lasten auferlegen würde, als man ihnen Ersparnisse durch 
dieses Gesetz ungefähr in genereller Berechnung zuführte. Es stellte sich 
nachher heraus, daß aus vielen practischen Beispielen den Einzelnen der 
Begriff des Ortsarmenverbandes ein ganz unanwendbarer war wegen der 
ungerechten Vertheilung, die in unserer Armenpflege, die eigentlich dem Staate 
zur Last steht, die er aber auf die Gemeinden abgebürdet hat, überhaupt 
stattfindet. Nach der geographischen Lage sind kleine impotente Gemeinden 
sehr häufig mit Armenpflege überlastet, und große reiche Gemeinden haben 
darin sehr wenig, und es hätte Das eine zu ungleiche Vertheilung der 
Prämienbeiträge gegeben, wenn man bei dem Ortsarmenverbande stehen 
blieb. In dieser Ueberzeugung schlug ich vor, statt Ortsarmenverband zu 
sagen Landarmenverband. So hat der Entwurf ein Paar Wochen lang sein 
Leben gefristet, bis endlich auf Einfluß der verbündeten Staaten und auch 
des Wirthschaftsraths diese Bezeichnung fallen gelassen und statt Dessen dem 
Einzelstaat überlassen bleiben sollte: wie er entweder selbst eintreten wollte 
als Landarmenverband oder wie er seine Landarmenverbände heranziehen 
wollte. So ist die Grenze von 750  entstanden, daß wir zulezt auf die 
reine Staatshilfe in dieser Form, die immer noch das Moderamen der 
Staatsgesetzgebung im Wege der Vertheilung auf die Landarmenverbände 
oder die Kreisarmenverbände ist, hinausgekommen sind, — wir werden ja 
doch einer Revision unserer Armengesetze überhaupt bedürfen, wie man Das 
nachher wenden will, ist gleichgiltig. Es wundert mich nicht, wenn über 
einen neuen, so tief in unser Leben eingreifenden und so wenig von der Er- 
fahrung urbar gemachten Gegenstand die Meinungen sehr weit auseinander- 
gehen, und ich bin vollständig darauf gefaßt, daß wir wegen dieser Divergenz 
der Meinungen in dieser Session einen annehmbaren Gesetzentwurf nicht zu 
Stande bringen. Mein Interesse an der ganzen Bearbeitung der Sache wird 
sehr abgeschwächt, sobald ich erkennen sollte, daß das Princip der Unter- 
lassung des Staatszuschusses definitiv zur Annahme  käme, daß die Stimmung
	        
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