136 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 1- 4)
über. Der Herr Vorredner (Abg. Eugen Richter) sagte, gerade Das sei ein
Mangel des Gesetzes, daß der Grundsatz der Freiheit des Arbeiters von Bei-
trägen nicht vollständig durchgeführt sei. Er that so, als wenn er gar nicht
eingeführt wäre, er gilt allerdings nicht für die Arbeiter, die über 750
Lohn in 300 Arbeitstagen beziehen. Das beruht eben auf der Genesis des
Gesetzes, daß es so gekommen ist; es stand ursprünglich im ersten Entwurf,
daß ein Drittel der Beiträge von den Ortsarmenverbänden geleistet werden
sollte, denen im Falle der Invalidität des Arbeiters seine Ernährung aus
dem Gesichtspunkte der vom Staate auferlegten Armenpflege zur Last fallen
würde, und es ist kein Grund, diesen Gemeinden resp. der gesammten
Armenpflege, denen bisher die 80 Proc, der vom Haftpflichtgesetz nicht be-
troffenen Verunglückten zur Last fallen, einfach ein Geschenk damit zu machen,
und deßhalb wurde als der Gerechtigkeit entsprechend der Satz angenommen,
daß der Armenverband, dem im anderen Falle die Verunglückten zur Last
fallen würden, ein Drittel tragen solle. Dieses Raisonnement findet aber
auf Diejenigen, die in ihrem Lohne so hoch stehen, daß sie, wenn sie verun-
glückten, dem Armenverbande schwerlich zur Last fallen würden, nach ihrer
ganzen Wohlhabenheit, nicht mit derselben Sicherheit Anwendung. Ich bin
sehr gerne bereit, diese Beschränkung fallen zu lassen. Es ist schon oft davon
die Rede gewesen. Nachdem die Gesammtheit des Reichstags aber sich bis-
her gegen einen Staatszuschuß überhaupt zu meinem Bedauern ausgesprochen
hat, würde ich damit dem Gesetze auch nicht mehr Stimmen zuführen. Ich
erkläre indessen, daß die Grenze von 750 ℳ gegenüber der ganzen Theorie, die
dem Gesetze zu Grunde liegt, kein wesentlicher Punkt ist. Das ist ein
Billigkeitsgefühl gegen die Armenverbände ursprünglich gewesen, denen man
keine höheren Lasten auferlegen würde, als man ihnen Ersparnisse durch
dieses Gesetz ungefähr in genereller Berechnung zuführte. Es stellte sich
nachher heraus, daß aus vielen practischen Beispielen den Einzelnen der
Begriff des Ortsarmenverbandes ein ganz unanwendbarer war wegen der
ungerechten Vertheilung, die in unserer Armenpflege, die eigentlich dem Staate
zur Last steht, die er aber auf die Gemeinden abgebürdet hat, überhaupt
stattfindet. Nach der geographischen Lage sind kleine impotente Gemeinden
sehr häufig mit Armenpflege überlastet, und große reiche Gemeinden haben
darin sehr wenig, und es hätte Das eine zu ungleiche Vertheilung der
Prämienbeiträge gegeben, wenn man bei dem Ortsarmenverbande stehen
blieb. In dieser Ueberzeugung schlug ich vor, statt Ortsarmenverband zu
sagen Landarmenverband. So hat der Entwurf ein Paar Wochen lang sein
Leben gefristet, bis endlich auf Einfluß der verbündeten Staaten und auch
des Wirthschaftsraths diese Bezeichnung fallen gelassen und statt Dessen dem
Einzelstaat überlassen bleiben sollte: wie er entweder selbst eintreten wollte
als Landarmenverband oder wie er seine Landarmenverbände heranziehen
wollte. So ist die Grenze von 750 entstanden, daß wir zulezt auf die
reine Staatshilfe in dieser Form, die immer noch das Moderamen der
Staatsgesetzgebung im Wege der Vertheilung auf die Landarmenverbände
oder die Kreisarmenverbände ist, hinausgekommen sind, — wir werden ja
doch einer Revision unserer Armengesetze überhaupt bedürfen, wie man Das
nachher wenden will, ist gleichgiltig. Es wundert mich nicht, wenn über
einen neuen, so tief in unser Leben eingreifenden und so wenig von der Er-
fahrung urbar gemachten Gegenstand die Meinungen sehr weit auseinander-
gehen, und ich bin vollständig darauf gefaßt, daß wir wegen dieser Divergenz
der Meinungen in dieser Session einen annehmbaren Gesetzentwurf nicht zu
Stande bringen. Mein Interesse an der ganzen Bearbeitung der Sache wird
sehr abgeschwächt, sobald ich erkennen sollte, daß das Princip der Unter-
lassung des Staatszuschusses definitiv zur Annahme käme, daß die Stimmung