Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Des deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 1—4.) 139 
„Das Almosen ist das erste Stadium christlicher Mildthätigkeit, wie 
sie z. B. in Frankreich in weiter Verzweigung existiren muß. In Frank- 
reich hat man kein Armenpflichtgesetz, jeder Arme hat dort das Recht, zu 
verhungern, wenn nicht mildthätige Leute ihn davon abhalten. Das ist die 
erste Pflicht; die gesetzliche Hilfe des Armenverbandes ist die zweite. Aber 
ich möchte gerne, daß ein Staat, der — wenn Sie auch die Benennung 
„christlicher Staat" perhorresciren - doch in seiner großen Mehrheit aus 
Christen besteht, die Grundsätze der Religion, zu der wir uns bekennen, 
namentlich in Bezug auf die Hilfe, die man dem Nächsten leistet, in Bezug 
auf das Mitgefühl mit dem Schicksal, dem alte leidende Leute entgegengehen, 
sich einigermaßen durchdringen läßt. (Bravol) Die sehr weit gehenden 
Auseinandersetzungen, die ich theils heute gehört, theils gestern in dem viel- 
leicht nicht ganz vollständigen Oldenburg'schen Auszug gelesen habe, nöthigen 
mich noch zu einigen Erwägungen. Der Herr Abgeordnete Richter hat 
gesagt, die ganze Vorlage wäre eine Subvention für die Großindustrie. 
Nun, Das ist wieder die Frage des Classenhasses, die neue Nahrung be- 
kommen würde, wenn man Dies allgemein glauben könnte. Ich weiß nicht, 
warum Sie gerade bei der Regierung eine blinde parteiische Vorliebe für 
die Großindustrie voraussetzen. Es sind die Großindustriellen ein allerdings 
meistens vom Glück begünstigter Theil unserer Bevölkerung, Das erregt kein 
Wohlwollen bei Andern; ihre Existenz aber zu schwächen und zu schmälern, 
wäre doch ein sehr leichtsinniges Experimentiren. Wenn wir die Groß- 
industrie, wie wir sie haben, fallen ließen, wenn wir es dahin kommen 
ließen, daß sie mit dem Auslande nicht mehr concurrenzfähig bleibt, wenn 
wir ihr Lasten auferlegen wollten, von denen nicht bewiesen ist, ob sie die- 
selben wird tragen können, so würden wir damit vielleicht Beifall bei Allen 
finden, die mit Aerger Jeden sehen, der reicher ist wie Andere, namentlich 
wie sie selbst. Aber bringen Sie die Großindustriellen zu Falle, was machen 
Sie dann mit den Arbeitern: Dann ständen wir wirklich vor der Frage, 
die der Herr Abgeordnete Richter sorgend anregte, daß wir an die Organi- 
sation der Arbeit gehen müssen; denn wir können, wenn ein Etablissement 
zu Grunde geht, das 20,000 und mehr Arbeiter beschäftigt, wenn es zu 
Grunde geht, weil die Großindustriellen stets der öffentlichen Meinung und 
der Gesetzgebung denuncirt werden als gemeinschädlich und als lange nicht 
genug besteuert, wenn sie dann erlägen, wir könnten doch nicht 20,000 und 
mehrere hunderttausend Arbeiter verkommen und verhungern lassen. Wir 
müßten dann zu wirklichem Staatssozialismus greifen und für diese Leute 
Arbeit finden, wie wir Das ja bei jedem Nothstande thun. Wenn die Ein- 
wendung des Herrn Abgeordneten Richter richtig wäre, daß man sich wie 
vor einer ansteckenden Krankheit vor der Möglichkeit des Staatssozialismus 
hüten müsse, wie kommen wir darauf, bei Nothständen in einer oder der 
anderen Provinz Arbeiten zu organisiren. Arbeiten einzurichten, die wir sonst 
nicht machen würden, wenn die Arbeiter Beschäftigung und Verdienst hätten? 
Wir veranlassen in solchen Fällen den Bau von Eisenbahnen, deren Renta- 
bilität zweifelhaft ist, wir veranlassen Meliorationen, die wir sonst jedem 
auf eigene Rechnung überlassen. Ist Das Communismus, so bin ich in 
keiner Weise dagegen, aber mit solchen prinzipiellen Stichworten kommt man 
wirklich nicht vom Fleck. Ich bemerkte schon das Eintreten des Herrn Abg. 
Bamberger für die Privatversicherungsanstalten; ich bin der Ueberzeugung, 
daß wir keine Verpflichtung haben, gegenüber jenem großen wirthschaftlichen 
Bedürfniß für jene allein und in erster Linie einzutreten. Er hat ferner 
erwähnt die „vier Wochen", die außerhalb des Versicherungswesens fallen. 
Es ist Das, wie erwähnt, geschehen, in der Hoffnung, daß die Knappschaften 
und Genossenschaften ihrerseits das Bedürfniß haben würden, auch etwas zu 
  
 
	        
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