182 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 12—14.)
12—15. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: Commission
für Vorberathung des Unfallversicherungsgesetzes: zweite Lesung des
Entwurfs. Das Resultat derselben ergibt keine Veränderung des
Resultates der ersten Lesung. Der conservativ=clericale Compromiß
behält mit 17 gegen 10 Stimmen nochmals die Oberhand. Be=
züglich der Ersetzung der Reichsversicherungsanstalt durch particula=
ristische Landesanstalten gibt selbst der Reichskanzler nach.
Staatssecretär v. Bötticher erklärt im Auftrage der „Reichsregierung“:
letztere ziehe die Landesversicherungsanstalten mit Ausschluß der Privatver-
sicherungsanstalten einer Reichsanstalt unter Belassung derselben, woran die
Liberalen festhalten, vor. Das Versicherungsmonopol, selbst in den Händen
der Einzelstaaten, ist also dem Reichskanzler lieber, als eine Reichsanstalt
ohne Monopol. — Unter den 10 Mitgliedern der Minderheit, sind 6 National=
liberale, 3 Fortschrittler und 1 Mitglied der Gruppe Bölk=Hölder; der
Secessionist war bei der Schlußabstimmung am Erscheinen verhindert.
Die Gründe, aus denen die Mehrheit der Unfallversicherungscommission
die Reichs=, beziehungsweise Staatszuschüsse zu den Prämien principiell verwirft,
werden in dem Berichte des Frhrn. v. Hertling im wesentlichen dar=
gelegt wie folgt: Die Staatsbeihilfe würde der Invaliden=Entschädigung den
Charakter der Armenunterstützung ausprägen. Ob man nun von der Rechts=
anschauung ausgehe, daß der Unternehmer für die Betriebsunfälle, welche
seine Arbeiter betreffen, ganz ebenso, wie für sämmtliche übrige Productions=
kosten aufzukommen habe, wie ihm ja auch der Erlös des Arbeitsproductes
zufalle, oder ob man mit den Motiven dem practischen Christenthum das
Wort rede, welches mehr als bisher die Gesetzgebung durchdringen müsse,
jedenfalls resultire daraus die Verpflichtung der Industrie, selbst für ihre
verunglückten Arbeiter Sorge zu tragen. Adoptire man das Princip der
Regierungsvorlage, so sei die Beschränkung auf die Arbeiter der Industrie
nicht länger festzuhalten, es sei eine Ungerechtigkeit, die gleichen Wohlthaten
nicht auf alle Berufsgattungen auszudehnen, wenn man die Gesammtheit für
die Aufbringung der Mittel heranziehe. Die beabsichtigte Entlastung der
Armenverbände sei gewiß dankbar anzuerkennen, aber dieselben seien bisher
in völlig ungerechtfertigter Weise überlastet gewesen. Es sei Zeit
dahin zu legen, wo man den Gewinn davon trage. Nicht darauf komme
es an, in den Arbeitern das Bewußtsein zu erwecken, daß der weiteste Ver=
band, der Staat, für sie sorge; dieß werde nur zu einer ungemessenen Stei=
gerung der Ansprüche führen. Das Richtige sei vielmehr, ihr Interesse an
den nächsten Kreis zu knüpfen und sie von der Uebereinstimmung ihres
eigenen mit dem Interesse der Arbeitgeber zu überzeugen.
Besser ist der Entwurf in der Commission kaum geworden. Statt
der unmittelbaren Reichsbureaukratie wird man vorläufig die Landesbureau=
kratie haben. Das ist der Hauptunterschied. Die zwei Hauptpuncte dagegen
— sachgemäße Durchführung der Prämien=Classification und Betheiligung
der versicherten Volkssschichten an der Verwaltung ihrer corporativen Selbst=
versicherung — sind Seitens der Reichstagscommission in nichts gefördert,
ja, wie es scheint, kaum einer durchgreifenden und gründlichen Erörterung
unterzogen worden. Und doch mußte man hier positiv zu ergänzen wissen,
hier den Grund einer eben so freiheitlichen und sozialpolitisch conservativen
als naturgemäß decentralisirten und politisch nicht mißbrauchbaren Selbst=
verwaltung zu legen suchen. Dieß hat man nicht gethan.
14. Mai. (Deutsches Reich.) Bundesrath: genehmigt die