Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 19—21.) 187 
lich, noch zu verschärfen. Der Hauptkampf dreht sich daher nament= 
lich um § 100e mit feinen einzelnen Absätzen. Der erste und zweite 
Absatz werden nach dem Antrage der Commission mit 140 gegen 
123 Stimmen angenommen, der dritte und vierte dagegen mit 132 
gegen 127 in namentlicher Abstimmung verworfen. 
Die Generaldebatte ist nur kurz, aber schon ziemlich lebhaft. 
Baumbach meint, was dieses Gesetz schaffe, seien eigentlich keine Innungen 
im historischen Sinne, sondern etwa Gewerbevereine. Richter=Hagen 
richtet die Aufmerksamkeit des Hauses auf die Frage der Arbeitsbücher, welche 
die Gefahr in sich nberge, daß durch sie eine Coalition der Arbeitgeber gegen 
die Arbeitnehmer sich bilde. Die ganze Vorlage beschränke überhaupt die 
Rechte der Arbeitnehmer gegenüber denen der Arbeitgeber. Ackermann 
bezieht sich auf die früheren vielfachen Gelegenheiten, bei denen die Deutsch= 
Conservativen ihren Standpunct dargelegt hätten; sie stünden auch heute noch 
auf demselben  Standpunct und acceptirten daher im Wesentlichen die Grund= 
lage der Commissionsanträge. Hartmann (Sozialist) bekämpft die ganze 
Grundlage de  Vorlage. In der Spezialdebatte concentriren die Liberalen 
ihre Kräfte, namentlich auf zwei Puncte. Der eine ist die von der Re= 
gierung beantragte und von der Commission acceptirte Bestimmung, daß 
Alle, „die ein Gewerbe selbständig betreiben“, zu einer Innung zusammen= 
treten können, während es bisher hieß: „Alle, welche gleiche oder verwandte 
Gewerbe betreiben.“ Durch diese Neuerung. die der Vorlage einen liberalen 
Anstrich geben soll, wird der einzige Existenzgrund der Innung, die För= 
derung des Handwerks durch die Vereinigung von Leuten desselben Berufes, 
negirt, da nun Angehörige der verschiedensten Gewerbe eine einzige Innung 
werden bilden können. Es wird, wie ein liberaler Abgeordneter sagt, der 
reine Jahrmarkt werden. Der Zweck der Bestimmung ist aber nur der 
selbst in dem kleinsten Reste, wo die einzelnen Gewerbe für sich nicht zahl= 
reich genug  sind, eine Innung möglich zu machen. Die Bestimmung wird 
nach der Vorlage angenommen. Der zweite Punct ist der § 100e bei 
welchem begzüglich der beiden ersten Absätze die Conservativen, bezüglich der 
zwei letzten dagegen die Liberalen mit Hilfe des größeren Theils der Frei= 
conservativen siegen. Der § 100e enthält nunmehr nur noch die Bestim= 
mung, daß Streitigkeiten aus den Lehrverhältnissen auf Anrufen eines der 
streitenden Theile von der zuständigen Innungsbehörde auch dann zu ent= 
scheiden sind, wenn der Arbeitgeber der Innung nicht angehört, sowie daß 
die von der Innung erlassenen Vorschriften über die Regelung des Lehrver= 
hältnisses, über die Ausbildung und Prüfung der Lehrlinge, auch für Lehr= 
herren außerhalb der Innung bindend sind. Dagegen ist das Verbot der 
Annahme von Lehrlingen für Richtinnungsmitglieder ebenso wie die von der 
Commission hinzugefügte Bestimmung über die Heranziehung auch der außer= 
halb der Innung stehenden Meister zu Kranken=, Witwen= und dergl. Cassen 
abgelehnt. Die Liberalen trösten sich bezüglich des nur halben Sieges damit, 
daß das Gesetz in seiner gegenwärtigen Gestalt nur wenig Schaden thun 
werde, so lange nicht die einzelnen Landesregierungen und Behörden mit der 
in einem Theile des Handwerkerstandes angefachten und von gewerbsmäßigen 
reactionären Agitatoren genährten Strömung gemeinschaftliche Sache machen. 
Hier liege allerdings die Gefahr nahe,  daß die Behandlung des Gewerbe= 
wesens, je nach den Neigungen und Zielen der einzelnen Regierungen, eine 
verschiedene werde, und diese Befürchtung würde umsomehr platzgreifen müssen, 
wenn es den vereinigten Deutschconservativen und Centrumsmännern gelingen 
sollte, die bei der zweiten Lesung verlorenen Positionen in der dritten Be= 
rathung wieder zu erobern. 
  
 
	        
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