Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 21.) 189 
missionsanträge hinaus, die dem berechtigten Verlangen des Volkes 
lange nicht genug entsprächen. Die Regierung erklärt seine Anträge 
für durchaus unannehmbar. Dennoch werden sie mit erheblicher 
Mehrheit angenommen. 
21. Mai. (Bayern.) Schluß des Landtags und der Legis= 
laturperiode desselben. Landtagsabschied des Königs. Die patrio= 
tische (gemäßigt=ultramontane) Fraction richtet über ihr Verhalten 
einen Rechenschaftsbericht an die Wähler. 
Ein Rückblick auf die letzten 6 Jahre ist für die ultramontane 
Partei sehr wenig befriedigend. Die Wahlen von 1875 ergaben 79 ultra= 
montane gegen 77 liberale Mitglieder der zweiten Kammer. Als Führer 
der ersten ward Dr. Jörg anerkannt und derselbe beschloß sofort einen Adreß= 
sturm auf das gemäßigt liberale Ministerium. Schon in der Adreßcom= 
mission kamen sehr auffallende Vorgänge vor und ihnen folgte eine Adreß= 
debatte von unerhörtem Tone und dieser die Annahme des nicht eben sty= 
listisch ausgezeichneten Adreßentwurfs mit allen 79 ultramontanen gegen alle 
76 liberalen Stimmen, da ein liberales Kammermitglied am Tage der Ab= 
stimmung gewissermaßen, auf dem parlamentarischen Schlachtfelde selbst ge= 
storben war. Der Ton der Debatte wie die Adresse fanden in dem unter 
dem 19. October erlassenen Signat des Königs eine eindringliche Beurtheilung 
und Zurückweisung. Auf diesem Puncte geschlagen unternahm nun die 
clericale Partei einen Angriff auf die liberalen Wahlergebnisse. Eine ganze 
Reihe von Wahlen wurden cassirt; das Ergebniß war jedoch überall die 
Wiederwahl der ihres Mandats beraubten Abgeordneten und zwar durchweg 
mit stärkeren Majoritäten als den früheren. Erst nach diesen von zahl= 
reichen parlamentarischen Schlappen, zum Theil der drastischesten Art beglei= 
teten Versuchen, gab sich die clericale Mehrheit zur Ruhe. An einzelnen 
kleinen Anläufen zur Herstellung eines Mißtrauensvotums gegen das 
Ministerium fehlte es indeß noch immer nicht. Man wollle nach wieder= 
holten Erklärungen der Parteileitung demselben nur das für die Weiter= 
führung des Staatshaushaltes unumgänglich Nothwendige bewilligen, sah 
sich aber dann regelmäßig durch irgendwelchen Abfall in die Minderheit ver= 
setzt. Tragikomisch gieng es besonders bei den Eisenbahndebatten zu. Be= 
sonders eigenthümlich zeigte sich diese Taktik bei der Frage über Herstellung 
eines obersten bayerischen Verwaltungsgerichtshofes, mit welchem die Um= 
wandlung und Geschäftsverminderung des Staatsrathes zusammenhing. Jene 
Einrichtung war als Bedingung des Fortbestandes des bayerischen obersten 
Landesgerichtes stipulirt worden und die ganze Kammer hatte zur Erhaltung 
der bayerischen Justizhoheit diese Einrichtung verlangt. Nichts desto weniger 
wollten die ultramontanen „Patrioten“ das Zustandekommen jenes Gerichts= 
hofes verhindern und nur dem Abfall Einiger war die Schöpfung jener 
Bedingung für den Fortbestand der bayerischen Justizhoheit zu verdanken. 
Anträge wie der Jörg'sche auf Aufhebung sämmtlicher außerdeutscher Ge= 
sandtschaften mit Ausnahme derjenigen in Wien zeigten zugleich, wohin das 
ganze Manöver gezielt war. Man wollte das Ministerium der Krone gegen= 
über in Verlegenheit setzen und spielte leichtsinnig mit den eben von dieser 
Krone im Rahmen der deutschen Reichspolitik vorbehaltenen Rechten. Dieses 
Spiel mit dem niemals fehlenden schließlichen Ergebniß einer Niederlage 
konnte die Partei freilich nicht anders als vollständig zerklüften. Jene 
Partei hatte schon früher eigenthümliche Wandlungen durchzumachen. Vor 
den Neuwahlen von 1875 erklärte Jörg, daß kein 2 Votant für die bayerische 
 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.