Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

190 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 23.) 
Kriegsbetheiligung von 1870 wie für die Annahme der Versailler Verträge 
wieder gewählt werden dürfe. Hämisch nannte er dieselben ,,wurmstichige 
Aepfel.“ Aber diese 1875 vorgenommene „Purificirung“ genügte nicht. Die 
Leute wurden Herrn Jörg neuerdings theilweise wurmstichig und halb= 
ministeriell, theils giengen sie nach der anderen Seite. Schließlich bildete 
sich unter Führung der Herren Schels und Dr. Rittler eine kleine extreme 
Partei aus, der von Reichstagsmitgliedern auch die Herren A. Frhr. von 
Hafenbrädl und Pfarrer Dr. Schäfler angehören. Die Partei Jörg scheidet 
sonach wieder in vollständiger Zerklüftung. Links von ihr hat sich nament= 
ich in Schwaben eine gemäßigte Richtung im Sinne der wurmstichigen 
Aeefel von 1870/71 gebildet, die freilich in diesem Augenblick über keine 
Kammersitze verfügt, den Erwerb von solchen bei der Neuwahl aber sicher 
anstreben wird; rechts von ihr steht mit großem agitatorischen Geschick und 
getragen durch die Volksstimmung namentlich eines Theiles von Altbayern 
und von Unterfranken eine extreme Partei. Die Lage, in der die ganze 
Partei dem Lande gegenüber aus dem sechsjährigen Feldzuge scheidet, ist 
allerdings nicht glorreich und ihr bisheriger Führer Jörg entschlossen, sich 
vom politischen Kampfe zurückzuziehen und nicht mehr in die Kammer 
wählen zu lassen. Der Rechenschaftsbericht „an die bayerisch=patriotischen 
Wähler“, den die Partei veröffentlicht, lautet gleichfalls wenig zuversichtlich 
und fast niedergeschlagen, indem die Kammermajorität sich darin gewisser= 
maßen, entschuldigt daß sie nicht mehr zu Stande gebracht habe, und sich 
und die Wähler damit tröstet, daß sie wenigstens alles gethan habe, was 
unter den obwaltenden Umständen möglich gewesen sei. 
23. Mai. (Deutsches Reich.) Bei der parlamentarischen 
Soirée beim Reichskanzler äußert sich derselbe über das Unfallver= 
sicherungsgesetz dahin, daß er dasselbe ohne Staatszuschuß nicht an= 
nehme; sollte das Gesetz jetzt nicht zu Stande kommen, so werde er 
damit wiederkommen. In Betreff Hamburgs äußert er sich dahin, 
daß für ihn die Sache feststehe und er die vorgeschlagenen Maß= 
nahmen durchsetzen werde, möge der Reichstag reden und beschließen, 
was er wolle. 
23. Mai. (Deutsches Reich.) Die Verhandlungen mit 
Oesterreich=Ungarn bezüglich eines Handelsvertrags sind definitiv ge= 
scheitert: es wird in Berlin lediglich ein Meistbegünstigungsvertrag 
zwischen beiden abgeschlossen, mit einer Dauer bis Ende 1887, jedoch 
mit der Clausel allenfallsiger früherer Kündigung Seitens beider 
Contrahenten. Der Vertrag, der keine Bestimmungen über den 
Appreturzoll, den Rohleinenverkehr, die Couponsfrage, die Eisen= 
bahntarife und die Viehseuchen=Convention enthält, tritt mit 1. Juli 
in Kraft und enthält lediglich einige Stipulationen über Erleichte= 
rungen im Grenzverkehr. 
Der Reichskanzler spricht sich über dieses Resultat in der Denk= 
schrift, die er zugleich mit dem Vertrage dem Reichstage übermiltelt, sehr 
kurz und sehr kühl folgendermaßen aus: „Es ist nicht gelungen, einen Tarif= 
vertrag mit Oesterreich=Ungarn zu vereinbaren. Die österreichisch=ungarische 
Regierung hat ein Verzeichniß derjenigen Positionen ihres Tarifs, zu deren 
  
  

	        
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