Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 27—29) 201 
27. Mai. (Preußen.) Eine Bekanntmachung des Finanz= 
ministers verfügt, daß in Folge des vom Landtage beschlossenen 
Steuererlasses die Monatsraten sämmtlicher Stufen der Classensteuer 
und der 5 untersten Stufen der Einkommensteuer in den Monaten 
Juli, August und September 1881 — also und zwar wohl nicht 
zufällig in den letzten Monaten unmittelbar vor den Reichstags= 
wahlen — unerhoben bleiben. 
28. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: 2. Lesung der 
Stempelsteuervorlage: die sog. Börsensteuer und die Besteuerung der 
Lotterieloose wird nach den Commissionsanträgen mit einigen Mo= 
dificationen angenommen, die Quittungssteuer dagegen einstimmig und 
die Besteuerung der Lombarddarlehen, der Cheks und Giroanweisungen 
mit Mehrheit abgelehnt und die Abstimmung über die Resolution 
betr. Aufhebung der Staatslotterien auf die 3. Lesung verschoben. 
28. Mai. (Preußen.) Ein Erlaß des Cultministers v. Putt= 
kamers an die Regierungspräsidenten dringt nachdrücklich auf Ein= 
schränkung der nicht selten unverhältnißmäßig hohen Aufwendungen 
der Gemeinden für das Volksschulwesen und für Schulzwecke über= 
haupt: 
„Zumal — meint der Minister — in einer Zeit, wo der nationale 
Wohlstand sich eben erst von den nachtheiligen Folgen einer verfehlten 
Wirthschaftspolitik zu erholen beginnt." Ferner „vermöge er sich nicht der 
Besorgniß zu verschließen, einerseits, daß in der Vertheilung der Schul= 
lasten zwischen Staat und Gemeinde nicht das gehörige Gleichgewicht 
vorhanden sei, und anderseits, daß jene Lasten, so weit sie auf den Schultern 
der unmittelbar Betheiligten ruhen, nicht selten eine unzulässige Höhe 
erreichen.“ In dieser Beziehung „werde in wünschenswerthem Maße erst 
dann Wandel geschaffen werden können, wenn der Staat nach vollsländiger 
Durchführung der begonnenen Steuerreform in der Lage sein werde, den Ge= 
meinden einen wesentlichen Theil der Schullast abzunehmen." Es erscheine 
deshalb geboten, „auf kostspielige Verbesserungen des bisherigen Zustandes, 
auch wenn sie an sich wünschenswerth und nützlich sein mögen, zu ver= 
zichten und sich mit den bestehenden Einrichtungen, auch wenn sie zu 
wünschen übrig lassen, bis auf bessere Zeiten zu begnügen.“ 
29. Mai. (Deutsches Reich.) Landesversammlung der 
nationalliberalen Partei in Berlin. v. Bennigsen eröffnet sie mit 
einem Ueberblick über die politische Situation und unterbreitet ihr 
den Entwurf einer Erklärung, in welcher die Stellung der Partei 
zu der Reichspolitik im Allgemeinen wie bez. der wichtigsten Einzel= 
fragen gekennzeichnet wird. Die „Erklärung“ wird nach mehrstün= 
diger Verhandlung, an der sich Vertreter aus den verschiedensten 
Gegenden Deutschlands betheiligen, einstimmig angenommen und von 
176 Mitgliedern des Reichstags und der Einzellandtage unterzeichnet. 
 
	        
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