Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

202 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 29.) 
Wortlaut der Erklärung: „Die am 29. Mai in Berlin ver= 
sammelten der nationalliberalen Partei angehörigen Mitglieder des Reichs= 
tags und der Volksvertretungen deutscher Einzelstaaten haben beschlossen, die 
nachfolgende Erklärung der Oeffentlichkeit zu übergeben. Die nationalliberale 
Partei steht in unverbrüchlicher Treue zu Kaiser und Reich. Bei voller 
Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Einzelstaaten wird sie nach wie 
vor der weiteren Entwicklung der Reichsinstitutionen in nationalem und 
freiheitlichem Sinne ihre Dienste widmen. Was für diese Entwicklung 
unter entscheidender Mitwirkung der Partei geschehen ist, bezeugt die Ge= 
schichte und die Gesetzgebung des Reichs in den ersten zehn Jahren seines 
Bestehens. Die nationalliberale Partei hält es für ihre nächste und wich= 
tigste Aufgabe, das auf diesem Wege Geschaffene in seinen wesentlichen 
Grundlagen ungeschmälert zu erhalten, ohne der bessernden Abhilfe sich 
zu versagen, wo einzelne Mängel in der Erfahrung hervorgetreten sind. Ihr 
Vertrauen zu der das Ansehen Deutschlands und den Frieden Europas 
sichernden Leitung unserer auswärtigen Angrlegenbeit besteht unerschüttert 
fort. Ueber die veränderte Richtung, welche die innere Politik 
der Reichsregierung zur Zeit verfolgt, gibt sich die Partei ebenso= 
wenig einer Täuschung hin, wie über die Veränderung, welche ihre eigene 
Stellung zur Reichsregierung dadurch erfahren hat. Aber die Zurückhaltung, 
welche hierdurch der nationalliberalen Partei auferlegt ist, wird sie nicht 
abhalten, alle Vorlagen der Regierung, auch auf dem Gebiete der inneren 
Gesetzgebung, unbefangen und sachlich zu prüfen und dem als nützlich Er= 
kannten ihre Unterstützung zu leihen. Das gilt namentlich auch von den 
Vorschlägen, welche für die arbeitenden Classen die Förderung der 
Wohlfahrt und den Schutz gegen die Folgen von Unglücksfällen im Auge 
haben. Getreu der natürlichen, übernommenen Verpflichtung werden wir 
der sozialistischen Bewegung nicht lediglich durch die Niederhaltung drohender 
gewaltsamer Ausbrüche, sondern vor Allem auch durch positive Maßregeln 
für das Wohl der arbeitenden Classen entgegenzutreten bemüht sein. Alle 
Bestrebungen, gleichviel von welcher Seite sie kommnen, welche auf die 
Schmälerung der verfassungsmäßigen Rechte der Volksvertre= 
tung und auf die Rückkehr zu abgestorbenen Formen unseres 
wirthschaftlichen Lebens gerichtet sind, wird die Partei mit Entschieden= 
heit bekämpfen. Sie ist jederzeit bereit, dazu beizutragen, daß ein friedliches 
Verhältniß zwischen Staat und Kirche wiederhergestellt und aufrecht= 
erhalten wird. Sie weiß auch sehr wohl die große Bedeutung des kirch= 
lichen Lebens für unser Volk zu würdigen; aber den nothwendigen und 
unveräußerlichen Rechten des Staates gegenüber der Kirche wird sie keinen 
Abbruch geschehen lassen, namentlich auch nicht auf den Gebieten der Schule 
und der Ehegesetzgebung, wo Uebergriffe kirchlicher Reaction gerade in 
Deutschland stets am Peinlichsten empfunden worden sind und am Unheil= 
vollsten gewirkt haben. Entschlossen, die bestehende gewerbliche. Gesetz= 
gebung und die auf ihr beruhende wirthschaftliche Freiheit gegen 
reactionäre Angriffe zu vertheidigen, halten wir an der Ueberzeugung fest, 
daß entgegenstehende Meinungen über Schutzzoll und  Freihandel nicht zur 
Grundlage politischer Parteibildung dienen dürfen. Die Verschiedenheit der 
landschaftlichen Interessen je nach dem Vorwiegen von Handel und Schiff= 
fahrt, von Ackerbau oder von Industrie erfordert dringend, daß innerhalb 
unserer Partei abweichenden Anschauungen über Zollfragen Raum gelassen 
wird. Ein Aufgeben dieser Freiheit würde eine über ganz Deutschland sich 
erstreckende nationalliberale Partei unmöglich machen. Kaum vollständig 
zurückgedrängte politische Gegensätze von Norden und Süden, von Osten und 
Westen müßten in unserem noch so jungen deutschen Reiche auf das Gefähr=
	        
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