Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

204 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 30—31.) 
30. Mai. (Preußen.) Die Kreissynode Berlin=Köln=Stadt 
verhandelt über die Agitation des Hofpredigers Stöcker gegen die Juden. 
Fabrikbesitzer Heckmann beantragt als Synodalmitglied eine Auffor= 
derung an Herrn Stocker, von seinem Treiben abzulassen. Zwar wird über 
diesen Antrag mit 25 gegen 20 Stimmen zur Tagesordnung übergegangen, 
aber die geringe Mehrheit, mit welcher dieser Beschluß gefaßt wird, ferner 
der Umstand, daß nicht ein Redner für Herrn Stöcker eintritt, endlich eine 
Bemerkung des Propstes v. d. Goltz, welche die Mißbilligung der Stöcker´schen  
Agitation auch seitens dieses hervorragenden strenggläubigen Geistlichen be= 
kundet — alles dieses beweist, daß ein sehr herausfordernd gehaltener Ver= 
such des Herrn Stöcker, sich zu rechtfertigen, ohne Eindruck geblieben war. 
Propst v. d. Goltz constatirt ausdrücklich, daß das Votum für den Antrag 
auf Tagesordnung die Uebereinstimmung mit Herrn Heckmann betreffs des 
Gebahrens des Herrn Stöcker nicht ausschließe. 
1. Mai. (Deutsches Reich.) Bundesrath: der Reichs= 
kanzler beantragt bei demselben eine Reduction der 20= u. 5=Mark= 
Reichscassenscheine und zwar von 40 auf 10 Millionen Mark. 
31. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: genehmigt die 
Zolltarifnovelle betr. Erhöhung des Mehlzolls und Einführung eines 
Zolls auf frische Weintrauben. 
Der Reichskanzler unterbreitet dem Reichstag auf Grund von 
Berichten des deutschen Gesandten in Peking und des Generalconsuls 
für Australien eine Denkschrift über deren Vorschläge zu Maßregeln 
behufs „Erhaltung und Hebung des deutschen Ausfuhrhandels nach 
Ostasien, Australien und der Südsee.“ 
Die Denkschrift schildert die Uebelstände des deutschen Export= 
handels nach China und Australien und verlangt: Begründung von Com= 
missionshäusern für den Export, Begründung einer Bank zur Vermittelung 
des Geldumsatzes, eventuell durch die preußische „Seehandlung.“ Herstellung 
einer regelmäßigen Dampferverbindung durch Dampferlinien nach China, 
Australien und den Südseeinseln. Hiebei wird auf die schwere Schädigung 
des deutschen Handels durch das Fallissement der Hamburger Firma Gode= 
froy und die Ablehnung der Samoavorlage durch den Reichstag hingewiesen. 
Die europäischen Mächte, welche ihre dortigen Annexionspläne aufgegeben 
hatten, haben dieselben wieder aufgenommen. Deutschland mache bezüglich 
seines Handels und seiner Machtstellung in jenen Ländern Rückschritte, welche 
nur durch die in Rede stehenden Vorschläge auszugleichen wären. Endlich 
weist die Denkschrift auf die erforderliche Staatssubvention für die projec= 
tirten Dampferlinien nach dem Vorgang anderer Staaten hin. 
Commission für die Vorlage betr. einen deutschen Volkswirth= 
schaftsrath: nimmt nach äußerst lebhafter Debatte die Vorlage mit 
8 gegen 6 Stimmen an. Die Ultramontanen spalten sich dabei und 
von den Nationalliberalen stimmt einer mit den Conservativen, sonst 
wäre bie Vorlage mit 7 gegen 7 Stimmen abgelehnt worden. 
Der Entwurf einer kaiserlichen Verordnung betreffend die 
Errichtung eines deutschen Volkswirthschaftsraths ist inzwischen auch 
 
	        
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