Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Ende Sept.) 255
daß die Revision des Zolltarifs unmiltelbar einen allgemeinen geschäftlichen
Aufschwung zur Folge gehabt habe, findet eine gründliche Abferligung. Die
große Mehrheit der Handelskammern widerspricht ihr direct und erklärt un-
umwundei, daß eine allgemeine Besserung der wirkhschaftlichen Lage nicht
eingetreten ist, daß der inländische Consum nicht zugenommen oder geradezu
abgenommen hat, daß die vorhandene Productionssähigkeit sich dem gegenüber
in einer mißlichen Lage befindet, welche fast überall in andauernd gedrückten
Preisen zum Ausdruck kommt. Nur wo enge Beziehungen zu der im Aus-
land eingetretenen Besserung der Verhältnisse mitwirkten, wie g. B. in ein-
zelnen Zweigen der Eisenindastrie, gestaltete sich auch in Temischiand die
Lage etwas günstiger. Die schärsste Beurtheilung erfährt die neue Wirth-
schaftspolitik aber auch in prineipieller Hinsicht. Unter den 85 Handels-
kammern, deren Auslassungen hier zusammengestellt sind, findet sich nicht
eine einzige, welche der Theorie der Negierung, daß das Ausland die deut-
schen Zölle trage, Voll beipflichtete. So erhebt in jeder Hinsicht die deutsche
Gewerbthötigkeit, wie sie hier selbst, nicht durch das Sprachrohr einzelner
Großindustriellen, in ihren ungähligen und meist sehr leislungsfähigen Zweigen
zum Wort gelangt, entschieden Protest gegen den durch die neue Zollgesetz-
gebung angestrebten Rückfall in ein veraltetes Absperrungssystem, so liefert
sie eine glänzende Rechtfertigung der früheren Zollpolitik, die der nationalen
Arbeit die Bahn zu einer freien gesunden Entwicklung zu öffnen trachtete.“
Dasselbe Blatt kommt späler auf die Bedentung dieser Handelskammerberichte
noch einmal zurück und bemerkt: „Daß die deutschen Zölle, entgegen der von
der Regierung verfochtenen Theorie, nicht von den Ausländern, sondern von
den deutschen Consumenten getragen werden, sleht den meisten Handelskam-
mern außer Zweifel und wird von ihnen durch Thatsachen nachgewiesen.
Aber auch die übrigen, selbst die entschieden schnhpoltneriichen Kammern be-
stätigen dieß indirect dadurch, daß sie Rückzölle beim Export solcher Arkikel
verlangen, zu deren Herstellung ausländische polhslichtige Waaren verwendet
worden sind. Nichts beweist in der That, wie das der Sammlung beige-
gebene Vorwort ausführt, die drohende Gefährdung unserer Export-Industrie
überzeugender, als die Thatsache, daß freihändlerische wie schnholluerüche
Kammern — unter lehteren insbesondere Osnabrück und Bochum — drin-
gend die Gewährung von Rückzöllen in ausgedehntem Umfange verlangen.
Daß das System der Rückzölle umgekehrt nur in geringem Umfange durch-
führbar ist, zeigt freilich nicht nur die Erfahrung anderer Länder, speciell
Frankreichs, sondern bestätigt auch ausdrücklich die Barmer Handelskammer,
die eine besondere Commission zur Prüfung dieser Frage eingeseßt hatte, und
die Klagen unserer Export-Industrie selbst aus den schutzöllnerischen Kreisen
werden noch viel lauter ertönen, wenn diese unvermeidliche Erkenntnisß sich
schließlich auch da Bahn bricht, wo man sich jetzt noch an die Hoffnung auf
ein heilbringendes System von Nückzöllen anklammert. In jedem Falle liegt
in der Forderung von Rückzöllen das Zugeständniß, daß der deutsche Fabri-
cant für die vom Auslande begogenen gollpflichtigen Materialien den Zoll
felbst. zu tragen hat, und darnach ist zu constatiren, daß der deulschen Reichs-
regierung in ihrer Theorie der Besteuerung des Auslandes durch die deutschen
Zölle nicht eine einzige Handelskammer zur Seite steht. Zugleich wird da-
durch aber ein anderer wichtiger Punkt klargestellt. Das System der Rück-
zölle hat ausschliehlich den Zweck, die einheimische Industrie in den Stand
zu seben, für das Ausland billiger liesern zu können, als für das Inland.
Eine auf dieser Grundlage basirte Fabrication steht *— im Effect auf
einer Linie mit jener Eisen-Industrie, die mit Hülfe von Schutzzöllen und
Coalitionen den eigenen Landsleuten hohe Preise abzwingt, um an die Aus-
länder zu weit niedrigeren Preisen verkaufen zu können. Man hat dem