Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

256 Pas deulsche Reich und seine rinzelnen Glieder. (Ende Sept.) 
früheren gemäßigten Freihandelssystem vorgeworfen, daß es die ausländische 
Production zu Unrecht begünstige, während es umgekehrt die deutsche Ge- 
werblhätigkeit in den Stand sette, Alles, was sie für ihre Fabricalion und 
die Ernährung ihrer Arbeiter billiger und besser vom Auslande kaufen konnte, 
Mmöglichst ohne künstliche Vertheuerung durch Zölle zu beziehen. Ein aus- 
gebildeles System von Nückzöllen, in Verbindung mit dem durch Coalitionen 
ermöglichten Export zu Minderpreisen, würde dagegen in der That auf eine 
handgreifliche Begünstigung des Anslandes zum Nachtheil des eigenen Landes 
hinauslaufen.“ 
Ende Seplember. (Deutsches Reich.) Die Regierung ist 
mit der Umarbeitung der Unfallversicherungsvorlage und mit der 
Ausarbeitung einer Vorlage betr. die Arbeiter-Kranken= und Hülfs- 
cassen beschäftigt. Beide sollen im Spätherbst oder jedenfalls im 
Frühjahr an den Reichstag gelangen; dagegen wird eine Arbeiter- 
Invalidiläts= und Altersversicherungs-Vorlage für die erste Session 
des neuen Reichstags wohl noch nicht bereift genug werden. 
Für die Unfallversicherungsvorlage werden noch immer Materialien 
in großem Umfange gesammelt und die Sammlung dieses Materials soll erst 
im November algeschlossen werden. Das Hülfscassengeseyn aber steht mit 
dem Unfallgesetz in engstem Zusammenhange, nachdem in den Motiven zu 
dem Unfallversicherungegesetz augekündigt worden ist: die Verpflichtung der 
Hülfscassen, für die verunglückten Arbeiter während der vierwöchigen Carenz- 
Jeit zu sorgen, jolle bei Gelegenheit der Revision des Hülfscassengefehes ge- 
regelt werden. Den Hülfscassen würde dann allerdings die Hauptlast zu- 
fallen, da der bei weitem größte Theil der Verlebungen in Folge eines Unfalls 
binnen 4 Wochen geheilt wird. Der Neichstag hatte deßhalb die Carenzfrist 
auf 14 Tage ermäßigt. Bei Ablehnung des NReichstagsentwurfs im Bundesrath 
hat Sachsen ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es wünschenswerth sei, 
das neue Hülfscassengefeh gleichzeitig mit dem Unfallversicherungsgeseß dem 
Reichslage vorzulegen, und in diesem Sinne scheint sich denn auch der Reichs- 
kanzler entschlossen zu haben. 
eunzwischen tritt in den Auslassungen der officiösen Blätter über die 
Stellung, welche die Regierung zur Arbeiterversicherung einnimmt, neuer- 
dings eine bemerkenswerkhe Schwenkung hervor. Darüber herrscht ja zwischen 
den Conservativen und den gemäßiglen Aberalen Uebereinstimmung, daß es 
ein überaus erstrebungswerthes Ziel sei, die bestehende obligatorische Armen- 
pflege nach und nach durch ein umfassendes Arbeiterversicherungswesen zu 
ersetzen, um sowohl das Selbstbewußtsein der Arbeiter zu schonen und zu 
heben, wie auch die Gemeinden von einer erdrückenden Last zu befreien und 
den „Unterstüßungswohnsih“, dessen Regelung noch immer einen nicht zu 
schlichtenden Hader zwischen Stadt und Und und desgleichen zwischen Nord- 
deutschland und Süddentschland hervorruft, allmählich immer mehr bedeu- 
tungslos zu machen. Allein liberalerseits hat man dabei immer betont, es 
müßten einestheils die Versicherungsprämien in der Regel aus dem Lohne 
bestritten werden, höchstens mit Beihülfe ausnahmsweiser und jedenfalls nur 
vorübergehender Zuschüsse aus Staatsmitteln, und es sollten anderntheils 
die Versicherten zur thätigen Theilnahme an der Versicherungsverwaltung 
mit herangezogen werden, so daß der Charakter corporativer Selbst- 
hülfe ersichtlich zur Erscheinung. gelange. Vor mehr als einem Jahre schon, 
nach dem ersten Kundwerden der Regierungsgedanken für Arbeilerver- 
schernng, schrieb der Nationalöconom und nat Jlib. Abg. Ad. Held: „Gegenüber 
  
 
	        
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