Das deuische Reich und seine einzeluen Glieder. (ct. 27.) 271
Die „Augsb. Allg. Ztg.“ glaubt das Ergebniß der Reichstagswahlen
felgendermaßen characterisiren zu dürfen: .„Weun schon nach der Natur der
Sache und im gewöhnlichen Laufe der Dinge eine auf Grund des allgemei-
nen Stimmrechts vollgogene Wahl zur Vollsvertretung mehr oder weniger
den Character eines Plebiscits über die Politik der Regierung annehmen
muß, so ist dieß besonders dann in hohem Grade der Fall, wenn das Gou-
vernement selbst ein bestimmtes Programm für seine nächste Thätigkeit aus-
drücklich und in unzweideutigen Kundgebungen aufstellt und die Wähler zu
einem Votum darüber auffordert, ob sie sich jenem Regierungsprogramm
gegenüber ablehnend oder zustimmend verhalten und ob sie dem leitenden
Staatsmann ihr Vertrauen in die Durchfüheng seines Programms oder ihr
Mißtrauen dagegen bekunden wollen. Ein solcher Fall lag dießmal bei den
Wahlen zum Neichstage vor. Seit Jahren ist die veränderte Nichtung der
Regierungspolitik erkennbar, seit Monaten ist das Programm, um dessen
Verwirklichung es sich in der neuen Session der deutschen Nationalvertretung
handeln sollte, in seinen allgemeinen Umrissen bekannt, und seit einer Neihe
von Wochen ist in Artikeln des ministeriellen Preßorgans das „Entweder—
welches die Regierung für die Wahlentscheidung aufsteüte, und die
sich deeselden nicht zu entziehen, den Wählern eindringlich vorgeführt
und eingeschärft worden. Es handelte sich also bei dem Plebiscit der Reichs-
tagswahlen darum: über das neue Programm der Reichsregierung, über die
steuer-, wirthschafts= und sogialpolitischen Projecte derselben, ein bestimmtes
und entschiedenes Verdict abzugeben. In erster Linie sind es bekanntlich
zwei Cardinalpuncte, auf welche sich das Programm der Neichsregierung
stützt, und welche somit auch für die Wahlentscheidung maßgebend sein
mußten. Der erste ist die Festhaltung und Ansbildung des zur finanziellen
Verselbständigung und Kräftigung des Reiches bestimmten Steuer= und Wirth-
schaftssystems; also: Fortbesland der Schutzzölle — auch auf nothwendige
Lebensbedürfnisse — Vermehrung der indirecten Steuern, Anstreben des
Tabakmonopols, „Hebung der nationalen producliven Kräfte“ durch staat-
lichen Schutz der Industrie, Subventionen für Handel und Schiffahrt, für
Coloniengründung u. . w. Der zweite auptpunct des neuen Programms
der Reichsregierung, für welches die officiöse Presse die Stimmen der Wähler
i lbsh nahm, ist die neue Sozialpolitik, das „practische Christenthum,
chu für die Armen und Schwachen, das „Patrimonium der Enterbten“,
dee allgemeine Neichsunfgallvericherung die a#ltersversorgung für die zu
dustrie-Arbeiter. Für dieses Programm hoffte die Regierung, wie sie
ihren Organen erklären ließ, „bei den Wählern nich nur# volles Versländeg
sondern auch eine energische Unterstützung zu finden", ihm gegenüber botte
sie alle „Fechterkunststücke der Opposition unschädlich zu machen.“ —
Antwort der Wähler auf diese Aufforderung der Regierung liegt jett riar.
Blieb auch ein Merrtel der Wahlen unentschieden und dessen Entscheid den
Stichwahlen vorbehalten, so ist doch das Gesammtresultat und seine Be-
deutung bereits in genügender Klarheit erkennbar. Das erhoffte Vertrauens-
votum durch die Wahl einer Mehrheit für das viel angepriesene Reform-
Programm hat sich nicht nur nicht gefunden: gerade diesenigen Persönlich-
keiten und Fractionen, welche als die dem Programm und seinem Urheber
nächststehenden gelten müssen, haben bei den Wahlen die meisten und schwersten
Mißerfolge erfahren, während diejenigen Parteiführer und Bestrebungen,
welche dem neuen Steuer= und Wirthschaftssystem wie dem neuen Staats-
sozialismus am schärfsten entgegentreten, aus dem Wahlkampfe siegreich und
verslärkt hervorgegangen sind. Die parlamentarischen Vorfechter des neuen
Wirthschaftsprogramms, die HSH. v. Varnbüler, v. Kardorff, v. Minnige-
rode, Wagner, Stöcker, v. Kusserow u. s. w. haben im Wahlgang vom