272 Das deulsche Reich und seine einzelnen Glicder. (Oct. 27)
27. October vorerst noch nirgends ein Mandat erlangt — die Führer der
„reihändlerischen“, entschiedon liberalen Richtung, die Rickert, Richter,
Forckenbec. Stauffenberg, Meier u. s. w. sind mit großen Majoritäten, zum
heil sogar doppelt wiedergewählt. Das so eben für den Zollanschluß ge-
wonnene Hamburg und die übrigen Hauptemporien des Seehandels, darunter
die wichtigsten Plähe für Getreide und Mbederei, Königsberg, Stettin, Bre-
men, nicht minder wie Hauptsitze der Industrie, in denen die Wietunger
der Schutzölle und der weiter in Aussicht gestellten Maßregeln für bie na-
tionale Production richtig zu erkennen und zu würdigen sein müssen: Berlin,
Magdeburg, Nürnberg, Elberfeld, die Oberlausitz, sächsische, wenfäkssche
thüringisch- bessische Fabrikdistricte, haben mit größerer Entschiedenheit als
früher die Candidaten des „entschiedenen“ Liberalismus gewählt. In den
größeren Städten, also bei denjenigen Wählerclassen, welche durch die steuer-
und wirthschaftspolitischen Veränderungen am meisten berührt werden und
der constitutionellen Entwicklung mit größerem Intereise und Versländniß
solgen als das platte Land, ist eine mehr oder minder beträchtliche Ver-
schiebung der Parteislellung der Wählerschaft nach der von der Regierung
zumeist bekämpften linken Seite hin eingetreten. Sehr geschwächt in ihrem
Bestand erscheinen durch die Wahl zwei derjenigen Parlamentsfractionen,
deren Stärkung am meisten in den Wünschen der Regierung liegen mußte:
die der Freiconservativen und der zur Vermitlelung geneigten Nationallibe=
ralen, während die Seressionisten, welche „der Reaction der neuesten Aera
vegenüber vom liberalen Standpuncte die seit Jahren üblich gewesenen, allzu
weit entgegenkommenden Compromisse fernerhin ablehnen“, sowie die Fort-
schrittspartei doppelt so viele Mandate theils schon erlangt. theils zu er-
reichen Anssicht haben als bei der vorletzten Wahl, und die reine Demokratie
als „Volkspartei“ zuerst wieder seit langer Zeit als förmliche Gruppe auf
dem Plan erscheint. Das seit der Abwendung des Kanglers vom Liberalis-
mus allmählich vom Banne der Reichsfeindlichkeit befreite, seit dem Um-
schwunge der Wirthschaftspolitil zu Ehren und- Einfluß gekommene, aber
doch nicht für alle Ziele der Regierung, auch für Hauptpuncte ihres neuen
Programms nicht zu gewinnende „Centrum“ 9 Reichstags kehrt mit seinem
vollen, achtunggebietenden Contingent, ja sogar um einige Mann verstärkt,
nach der ð Leipziger Straße in Berlin zurück. Deu einzigen tröstlichen? An-
blick für den gouvernementalen Beschauer des Wahlplatzes vom lehten Don-
nerstag bieten die in ihrem Bestande wenig beschädigten Reihen der „Deutsch-
conservativen“, bei denen sich die unfreundliche Erinnerung an die frühere
particulare Siellung zur nationalen Hälfte ihres heutigen Namens und zum
neuen Reiche seit dem Austrikt der Delbrück, Camphausen, Falk, Hobrecht
aus dem Collegialverhältniß zum leitenden Staatsmann allmählich spurlos
verwischt hat. — Was schließlich die besonders markanten Momente des
Wahlergebnisses für einzelne Theile des Reiches betrifft, so machen sich solche
dießmal wieder in aller Schärfe geltend. In Alipreußen rechts der Elbe
behauptet der Conservatismus in den bäuerlichen Wahlbezirken seine größte
Domäne, während die Städte immer mehr dem Fortschritt zuneigen. Der
Nationalliberalismus zeigt entschiedenen NRückgang. Auch im nördlichen,
nordwestlichen und miitleren Deutschland nimmt die Strömung nach links,
auf Kosten des gemäßigten Liberalismus, zu; am meisten in den kleineren
Bundesstaaten, an den Küsten und in Thüringen. In Sachsen wuchert die
Sozialdemokratie mit geringem Abschlag weiter. Im Rheinland behauptet
und befestigt das Centrum feinen Besistand, nur in Hessen und in der Pfalz
von slärkeren freisinnigen Elementen durchset; selbst in Baden verfallen
immer mehr Bezirke der schwarzen Partei. Im Reichslande sind die so viel-
begrüßten autonomistischen Regungen aus der Zeit des Möller'schen Régimes