Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 2—6.) 273
unter Manteuffels dem Clerus und dem Bourgeois so entgegenkommeder
Statthalterschaft nicht nur nicht erstarkt, sondern wieder in Ultramontanis-
mus und Protest untergetaucht. In Würtemberg hat die deutsche Partei
an Terrain verloren, Volkspartei und Clericalismus gewonnen. In Bayern
endlich hat nicht allein der letztere weitere Fortschritte zu verzeichnen, son-
dern auch eine politische Krankheit, die noch schlimmer ist als alle Ver-
irrungen nach rechts und links: der Indifferentismus gegen das öffentliche
Leben überhaupt, der sich dießmal in zahlreichen Wahlbezirken in einer wahr-
haft beschämenden Abstinenz vom Gang zur Urne äußerte."
Die Regierung macht sich über ihre Niederlage keine Illusionen.
Die amtliche „Prov-Korr.“ gesteht sie offen zu und selbst der Reichskanzler
beantwortet ein Ergebenheitstelegramm aus Leipzig vom 28. Oct. dahin:
„Mich hat der Ausfall der Wahlen weder überrascht noch entmuthigt. Chro-
nische Krankheiten erfordern Zeit und Geduld zur Heilung.“ Inzwischen ist
die Stimmung in Regierungskreisen eine gedrückte. Auf den Ausfall der
Berliner Wahlen und die totale Niederlage der dortigen Conservativen war
man wohl vorbereitet, keinesfalls aber auf die überwiegenden Oppositions-
wahlen in ganz Deutschland, zumal in dem jetzt hervorgetretene Umfange.
Mehr als je erhebt das Centrum das Haupt und läßt darüber keinen Zweifel,
daß es seine Bundesgenossenschaft nicht für einen billigen Preis hergeben
werde. Die conservativen Blätter anerkennen es bereits unumwunden, daß
die Entscheidung nunmehr in seiner Hand liege und hoffen auf seine
„Mäßigung.“
Es sind 97 Stichwahlen nöthig, welche sich nach den Bundesstaaten
folgendermaßen vertheilen: Auf Preußen fallen 58, auf Bayern 6, auf
Sachsen 8, auf Württemberg 2, auf Baden 5, auf Mecklenburg-Schwerin 3,
auf Hessen 5, auf Sachsen- Weimar 1, auf Koburg-Gotha 1, auf Braun-
schweig 1, auf Anhalt 1, auf Schaumburg- Lippe 1, auf Neuß ä. L. 1, auf Reuß j. L. 1, auf Hamburg 2, auf Elsaß-Lothringen 1.
2. November. (Preußen.) Generalvicar Kopp in Hildes-
heim wird durch ein päpstliches Breve in Einverständniß mit der
preußischen Regierung zum Bischof von Fulda ernannt.
4 — 5. November. (Bayern) II. Kammer: Debatte über
den ersten der drei Anträge der ultramontanen Mehrheit, die Be-
seitigung der Simultanschule. Ministerpräsident v. Lutz vertheidigt
mit Nachdruck seine dießfälligen Maßregeln. Die Redner der Mehr-
heit, Bonn und Rittler, gehen weiter und verlangen geradezu den
Rücktritt der liberalen Minister in Folge des durch die Wahlen
wiederholt ausgesprochenen Willens der Mehrheit der Bevölkerung.
Der Minister erklärt hiegegen entschieden, „er werde bleiben, bis ihn
Derjenige abberufe,
Der ihn hieher gestellt habe“.
Schließlich wird
der Antrag mit 85 Stimmen (allen ultramontanen und den 3 protest.-
orthodoxen) gegen 63 (alle liberalen) angenommen.
5. November. (Deutsches Reich.) Der Kaiser beruft den
neuen Reichstag dießmal schon auf den 17. November ein.
6. November. (Baden.)
Der Großherzog ernennt für alle 8
ihm in der I. Kammer zustehenden Sitze Liberale.
Schulthess. Europ. Geschichtskalender.
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