Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 8.) 275
seitens der deutschen Klein= und Mittelstaaten als die einzig richlige, con-
servative Politik betrachtet, die Stärkung der Volksvertretung als Stärkung
ves Bundesstaates selbst auf gefündester Grundlage angesehen werden.
der bestehenden Verfassung vereinigt der Großherzog in sich mit seiner
Eigench aft als der eine gesebgebende Factor vermöge seines Berufungsrechtes
zur Mitgliedschaft der I. Kammer gewissermaßen einen Theil der Rechte der
Landstände, die Regierung übt einen übermächtigen Druck auf die Gesetz-
gebung, die Stimme der eigentlichen Volksvertretung hat mehr nur einen
negativen Werth, welcher noch dazu im Hinblick auf die Möglichkeit der
Durchstimmung (Trt. 75 der Verf.-Urk.) von fehr fragwürdiger Bedeutung
ist. Bei dieser Sachlage entbehren wir des wahrhaften constitutionellen
Systems, unser Constitutionalismus ist mehr ein Scheinconstitutionalismus.
In der That hat auch im Großherzogthum die Regierung. erfahrungsmäßig
Gesehgebung und Steuerwesen von jeher überwiegend beherrscht, und es ist
der eigentlichen Volksvertretung felbst bei einmüthigem oder nahezu ein-
müthigem Zusammenhalten, etwa von den bewegteren Jahren 1848 und
1849 abgesehen, niemals gelungen, den ihr nach dem Wesen des Constitutio-
nalismus zukommenden bestimmenden Einfluß auf die Gesetzgebung und Ver-
waltung des Landes berechtigter Weise auszuüben. Es tritt dazu, daß die
vermöge ihrer Geburt berufenen Mitglieder der ersten Kammer ausschließlich
oder doch sehr überwiegend hochconservativen Anschauungen huldigen, wo-
durch die in der Wahlkammer vertretenen, die Volkseinheit repräsentirenden,
naturgemäß fortschreitenden Bestrebungen nahe zur Ohnmacht verurtheilt
ind. WMissenschaftlich ist namentlich in kleineren Staaten das Zweikammer=
ostem längst überwunden; die Zukunft gehört in Einheitsstaaten dem Ein-
kammersystem. Weun wir in Hessen den Antheil, welcher verfassungsmäßig
dem Volke an der Gesetzgebung zusteht, auf die Wahlkammer übertragen und
hu nicht nochmals zwischen den erwählten Vertretern des Volkes und einigen
Dußend von Geburt Berechtigten oder vom Staatsoberhaupt Berufenen
theilen, so beseitigen wir einen Anachronismus und kehren im Wesentlichen
zu dem allein verfassungsmäßigen Zustande von 1849 zurück.“
8. November. (Deutsches Reich.) Die (freiconserv.) „Post"“
kündigt zu allgemeiner Ueberraschung, da es im Widerspruch mit
seinen Aeußerungen in mehreren Antwortstelegrammen steht, in
einem, wie man glaubt, inspirirten Artikel den Rücktritt des Reichs-
kanzlers an. Die Blätter der Rechten halten die Nachricht für
ernsthaft, die der Linken können und wollen es nicht glauben und
halten sie höchstens für eine momentane Anwandlung des Kanzlers.
Der Artikel der „Post“ meldet, der Reichskanzler werde demnächst
nach Berlin zurückkehren und dem Kaiser angesichts des Wahlergebnisses
über die zukünftige Gestaltung der Recgierung Vortrag halten und führt
dann aus; der Kanzler sei es müde, das Stichblatt für alle Bosheit, Nieder-
trächtigkeit, Verleumdung und neidische Verdächtigung zu sein, welche eine
Bevölkerung von Millionen ablagere. Nach den Grundsätzen des Parla-
mentarismus würde die Mehrheit die Nachfolge des Kanglers übernehmen
müssen, indessen können Fortschritt und Centrum wohl gemeinsam opponiren,
aber nicht gemeinsam regieren. Bei der 1 nmöglichkeit, Preußen monarchisch
und dennoch nach den Grundsäben der Fortschrittspartei zu regieren, könne
ein Nachfolger des Kanglers bei der Wahl zwischen Centrum und Fort-
schrittspartei nur zu Gunsten des Centruns und des Bestrebens optiren,
unter Mitwirkung der katholischen Partei eine regierungfahie Mehrh eit zu