Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 23—25.) 285 
23. November. (Preußen.) Der Reichskanzler, unzufrieden 
darüber, daß die Mehrzahl der Handelskammern sich in ihren Jahres- 
berichten für 1880 ungünstig über die Wirkung der neuen Schutz- 
zollpolitik von 1879 ausgesprochen hat, richtet als preußischer 
Handelsminister einen tadelnden Erlaß an die Handelskammer von 
Grünberg. 
Derselbe constatirt, daß der Jahresbericht der Handelskammer für 
1880 thatsächliche Angaben enthält, welche im Vergleich zu früheren Jahres- 
berichten die Annahme einer inzwischen eingetretenen günstigeren Gestaltung 
der dortigen gewerblichen Verhältnisse rechtfertigen; so vermehrte sich danach 
der Eisenbahn-Güterverkehr, der Personenverkehr, der Briefverkehr, der Tele- 
grammverkehr und der Bankverkehr; es besserten aich die Lohnverhältnisse 
und erhöhten sich die Spareinlagen wesentlich. Dem gegenüber mußte es 
den Reichskanzler in hohem Grade befremden, daß die Handelskammer in 
der Einleitung des Jahresberichts für 1880 über eine völlige, aussichtslose 
Geschäftsstockung klage und dafür jeden Beweis schuldig bleibe. Der Erlaß 
erinnert schließlich daran, daß es gesetzliche Bestimmung der Handelskammer 
sei, die Gesammtinteressen der Handel= und Gewerbetreibenden wahrzunehmen 
und die Behörden in der Förderung des Handels und der Gewerbe durch 
thatsächliche Miltheilungen zu unterstützen. Dieser Bestimmung entspreche 
die Handelskammer nicht, wenn sie in dem Jahresbericht über die Lage der 
Industrie und die Wirkungen der Zollreform Urtheile abgebe und Klagen 
erhebe, welche in den thatföchlichen Anführungen des eigenen Berichts theils 
keine Unterlage, theils sogar directe Widerlegung finden. Durch ein solches 
Verfahren schädige die Handelskammer den Credit des Handels und der 
Industrie des Bezirks. Der Kangler fordert die Handelskammer auf, die ihr 
durch das Gesetz auferlegte Pflicht der Bericherstattung und Vertretung der 
Interessen des Bezirks mit größerer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zu er- 
füllen. 
23. November. (Bayern.) II. Kammer genehmigt den er- 
höhten Malgaufschlag der Regierung mit 89 (ultr.) gegen 52 (lib.) 
Stimmen vorerst nur auf 3 Monate. 
24. November. (Deutsches Neich.) Reichstag: Erste Lesung 
des Budgets für 1882/83. Finanzdarlegung des Schatzsecretärs 
Scholz. Ihm erwiedert der Führer der Fortschrittspartei Richter 
durch eine nach seiner Gewohnheit bissige Kritik. Niemand antwortet 
ihm, so daß die Debatte zu allgemeiner Ueberraschung damit jäh 
zu Ende kommt. 
25. November. (Deutsches Reich.) In den Berliner Zeit- 
ungen taucht das Gerücht auf, daß der Papst bei der preußischen 
Regierung um ein Afyl in Fulda nachgesucht habe, wenn er sich ent- 
schließen sollte, Rom zu verlassen, und die freiconservative „Post“, 
die in neuerer Zeit auch zu officiösen Mittheilungen benützt wird, 
knüpft daran die Behauptung, daß zwischen den Mächten bereits 
Unterhandlungen über die Herstellung der weltlichen Macht des Papsts
	        
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