Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deulsche Peich und seine einzelnen Glieder. (Dec. 6.) 307 
keit offen bekennten; aber in demselben Monate habe ich Ihnen auch aus- 
gesprochen, daß ich mich bei diesem Rathe nicht an Ihre Herzen, nur an 
Ihr Urtheil gewandt. Nicht vom Germanisiren, bloß von politischen Vor- 
theilen für das Land handelte es sich hiebei. Fern also bat mir bei dem 
Ergreisen jener Maßnahmen jeder Germanisirungsgedanke gelegen. Das 
Wohl der Bevölkerung machte sie zur Pflicht! Zu dem Wohlergahe einer 
Bevölkerung gehört das Gefühl der Sicherheit von dem Bestande des Staats- 
verhältnisses, und in unserem Falle das von der definitiven Zusammen- 
gehörigkeit von Elsaß-Lothringen mit Deutschland. Dieses Gefühl der Sicher- 
heit ist in der Bevölkerung nicht vorhanden, und darunter leiden alle Ver- 
hältnisse, wird der Unternehmungsgeist gelähmt, wird es erschwert, daß junge 
Elsaß-Lothringer in die Verwaltung treten, und somit das Interesse des 
Landes, daß Eingeborne die höheren Beamenstellen ennehmn, für lange 
Zeit erfährdet. Und woher rührt diese Unsicherheit Während die gemein- 
samen Arbeiten der Bezirkstage und des Landesausschusses mehr und mehr 
auf die Beruhigung im Land einwirkten, wurde hiegegen agitirt, und wäh- 
rend die Gouvernements der beiden großen Nachbarländer in Frieden und 
Eintracht mit einander verhandelten, wurde von Frankreich her in Reden, 
Zeitungen, Broschüren, Comitcs und demonstrativen Vereinsfeierlichkeiten 
immer und immer wieder, direct und indireck, die Bersicherung ausgesprochen, 
daß Elsaß-Lothringen, nur durch Gewalt unterdrückt, vorübergehend von 
Frankreich getrennt sei. daß es moralisch mit ihm vereinigt bleibe, daß es 
an Frankreich zurückfallen werde; die Männer, welche ihr elsaß-lothringischer 
Patriotismus vermocht hatte, ihre Kräfte dem Lande zu widmen, wurden 
selbstsüchtiger Absichten beschuldigt und zu Renegaten gestempelt. Der Zu- 
stand konnte nicht bleiben. Es war geboten, Klarheit und Sicherheit in die 
Gemüther zu bringen. Ueber das Wie habe ich viel nachgedacht. Gegen- 
erklärungen, Gegendemonstrationen hätten nur mehr Aufregung erzengt. 
Handeln wurde Pflicht; lacta logunntur. Der Veweis mußte geführt wer- 
den, daß das Deutsche Reich Elsaß-Lothringen voll und ganz als deutsches 
Land betrachtet. So lange: die verfassungsmäßige Vertretung von Elsaß- 
Lothringen in frauzösischer Sprache verhandelt, so lange die Bevölkerung die 
Reden ihrer Vertreter in französischer Sprache gehalten liest, so lange ge- 
winnt die Behauptung, daß die Trennung des Landes von Frankreich nur 
provisorisch sei, leichter Boden. Spricht die Landesvertretung deutsch, wer- 
den die Reden der Landesvertreter nur als ins Französische übersetzt gelesen, 
so, erkeunt das Land viel leichter das Definitive seiner Zusammengehörigkeit 
mit Deutschland au. Aus diesem Grunde habe ich jenen Antrag gestellt, 
und Kaiser und Neich haben den Stempel des Gesetzes darauf gedrückt. 
6. December. (Deutsches Reich.) Reichstag: die „Nordd. 
Allg. Ztg.“ greift Windthorst in einem überaus heftigen Artikel an 
wegen einer Aeußerung, die er im Hamburger Ausschuß gethan und 
durch den er bez. der Einbeziehung der Unterelbe in das Zollgebiet 
mit der Einmischung des Auslandes gedroht haben soll. Windt- 
horst bringt die Sache sofort in der Commission selbst zur Sprache 
und der Finanzminister Bitter muß anerkennen, daß der Angriff 
dem thatsächlichen Vorgange, also der Wahrheit nicht entspreche. 
Die ultramontane Partei aber fühlt sich durch diesen offiziösen An- 
griff auf ihren Führer so beleidigt, daß sie beschließt, auf der heu- 
tigen parlamenlarischen Soiree beim Reichskanzler nicht zu erscheinen. 
 
	        
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