8 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 8.)
steuerüberschüsse. Allerdings wird das Gesetz in den dem Landtage noch zu
Gebote stehenden wenigen Wochen schwerlich noch zustande kommen; aber es
liegt wohl auch dem Kanzler viel weniger an dem Zustandekommen jenes
vorgreifenden Gesetzes, als an den erst im Reichstage von ihm vorzulegenden
Steuergesetzen, für welche dieses die Wege bahnen und die Annahme erleich-
tern soll. Aus solchem Gesichtspuncte aufgefaßt ist es denn auch viel weni-
ger wichtig, daß der vorgelegte Entwurf schon in der gegenwärtigen Session
zum Gesetze werde, als vielmehr, daß über den Inhalt desselben, der den
bestimmten Plan des Kanzlers für die Fortführung der Steuerreform an-
deutet, zwischen dem Kanzler und den gemäßigten Liberalen eine Verstän-
digung herbeigeführt werde. Solche Verständigung wird sicher nicht leicht
sein, aber sie ist doch auch noch nicht unmöglich, falls der Kanzler sich nur
entschließen will, dem bekannten finanzpolitischen Standpuncte der Liberalen
doch ein wenig entgegenzukommen und seinem neuesten Plane einer fast gänz-
lichen Ersetzung der directen Staatssteuern durch indirecte Reichssteuern, den
schon Herr Hobrecht, als er noch Finanzminister war, ungläubig als
„Zukunftsmusik“ bezeichnete, zu entsagen, d. h. wesentlich engere Schranken
zu ziehen. — Das ist die Aussicht der gemäßigt Liberalen oder National-
liberalen. Schärfer urtheilen freilich über die Sachlage weiter links stehende
Liberale: „Die Nat.-Liberalen unter Bennigsen“, meinen diese, „bangen um
ihre von der Fortschrittspartei und den Secessionisten bedrohte Existenz und
sehen den Reichstagswahlen im künftigen Sommer mit ängstlichen Zweifeln
entgegen; wollen sie sich der Unterstützung Bismarcks versichern, so müssen
sie seiner Steuerpolitik zu Diensten sein und dieselbe im Vereine mit den
Conservativen acceptiren; sträuben sie sich, so steht das Centrum da und das
clerical-conservative Bündniß ist fertig. Zum Ueberflusse schließen sich auch
dankbare Arbeiter der von Bismarck geführten Coalition an, da es nicht
ohne Lohn bleiben kann, daß der Kanzler eine Anzahl von Handwerkern in
den Volkswirthschaftsrath beruft und den Staat für die Wohlfahrt der
Arbeiter zu interessiren beginnt. So stützt sich die Politik des Fürsten
Bismarck auf die Concurrenz zwischen Bennigsen und Windthorst. Ist's
nicht Jener, so ist es Dieser, der dem mächtigen Handelsminister die Hand
reicht, und was dabei aus dem Parlamentarismus wird, das kann man sich
lebhaft vorstellen. Die Parlamente werden zu großen Bazars, wo das
Wohl des Volkes um bestimmte Preise feilsteht. Fürst Bismarck erreicht
dabei den doppelten Zweck, seine Steuerprojecte durchzusetzen und die Auto-
rität der Volksvertretung stückweise zu zerstören."
Im Vordergrunde steht daher in allen Besprechungen der wieder einge-
troffenen Abgeordenden die Frage des Steuererlasses und der durch das sog.
Verwendungsgesetz angeregten Steuerreform. Aber schon über jene Frage
herrscht so ziemlich bei allen Fractionen eine geradezu heillose Verwirrung.
„Welche Fractionsmitglieder man auch über das Schicksal der eingebrachten
Vorlagen befragt, regelmäßig und übereinstimmend bekommt man die Ant-
wort, darüber könne heute noch Niemand etwas sagen, man müsse erst die
neueren Verhandlungen abwarten. Für so irrationell auch der vorge-
schlagene Steuererlaß fast überall erklärt wird. so besteht darüber kein
Zweifel, daß, wenn eine Fraction sich trotz des vorhandenen Defizits zur
Bewilligung eines Steuererlasses verstehen wird, alsdann auch fast alle
Fractionen des Hauses einem solchen Beschlusse sich nicht widersetzen werden.
Darin liegt ja eben die politische Taktik des Reichskanzlers, die diesen
Steuererlaß auf die bevorstehenden Wahlen gemünzt hat; denn es steht trotz
aller gegentheiligen Behauptungen positiv fest, daß der Reichskanzler diese
Maßregel, die er noch weiter ausgedehnt wissen wollte, dekretirt hat.“ Die
Regierung hat übrigens doch nur einen einmaligen Steuererlaß vorge-