Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

8 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 8.) 
steuerüberschüsse. Allerdings wird das Gesetz in den dem Landtage noch zu 
Gebote stehenden wenigen Wochen schwerlich noch zustande kommen; aber es 
liegt wohl auch dem Kanzler viel weniger an dem Zustandekommen jenes 
vorgreifenden Gesetzes, als an den erst im Reichstage von ihm vorzulegenden 
Steuergesetzen, für welche dieses die Wege bahnen und die Annahme erleich- 
tern soll. Aus solchem Gesichtspuncte aufgefaßt ist es denn auch viel weni- 
ger wichtig, daß der vorgelegte Entwurf schon in der gegenwärtigen Session 
zum Gesetze werde, als vielmehr, daß über den Inhalt desselben, der den 
bestimmten Plan des Kanzlers für die Fortführung der Steuerreform an- 
deutet, zwischen dem Kanzler und den gemäßigten Liberalen eine Verstän- 
digung herbeigeführt werde. Solche Verständigung wird sicher nicht leicht 
sein, aber sie ist doch auch noch nicht unmöglich, falls der Kanzler sich nur 
entschließen will, dem bekannten finanzpolitischen Standpuncte der Liberalen 
doch ein wenig entgegenzukommen und seinem neuesten Plane einer fast gänz- 
lichen Ersetzung der directen Staatssteuern durch indirecte Reichssteuern, den 
schon Herr Hobrecht, als er noch Finanzminister war, ungläubig als 
„Zukunftsmusik“ bezeichnete, zu entsagen, d. h. wesentlich engere Schranken 
zu ziehen. — Das ist die Aussicht der gemäßigt Liberalen oder National- 
liberalen. Schärfer urtheilen freilich über die Sachlage weiter links stehende 
Liberale: „Die Nat.-Liberalen unter Bennigsen“, meinen diese, „bangen um 
ihre von der Fortschrittspartei und den Secessionisten bedrohte Existenz und 
sehen den Reichstagswahlen im künftigen Sommer mit ängstlichen Zweifeln 
entgegen; wollen sie sich der Unterstützung Bismarcks versichern, so müssen 
sie seiner Steuerpolitik zu Diensten sein und dieselbe im Vereine mit den 
Conservativen acceptiren; sträuben sie sich, so steht das Centrum da und das 
clerical-conservative Bündniß ist fertig. Zum Ueberflusse schließen sich auch 
dankbare Arbeiter der von Bismarck geführten Coalition an, da es nicht 
ohne Lohn bleiben kann, daß der Kanzler eine Anzahl von Handwerkern in 
den Volkswirthschaftsrath beruft und den Staat für die Wohlfahrt der 
Arbeiter zu interessiren beginnt. So stützt sich die Politik des Fürsten 
Bismarck auf die Concurrenz zwischen Bennigsen und Windthorst. Ist's 
nicht Jener, so ist es Dieser, der dem mächtigen Handelsminister die Hand 
reicht, und was dabei aus dem Parlamentarismus wird, das kann man sich 
lebhaft vorstellen. Die Parlamente werden zu großen Bazars, wo das 
Wohl des Volkes um bestimmte Preise feilsteht. Fürst Bismarck erreicht 
dabei den doppelten Zweck, seine Steuerprojecte durchzusetzen und die Auto- 
rität der Volksvertretung stückweise zu zerstören." 
Im Vordergrunde steht daher in allen Besprechungen der wieder einge- 
troffenen Abgeordenden die Frage des Steuererlasses und der durch das sog. 
Verwendungsgesetz angeregten Steuerreform. Aber schon über jene Frage 
herrscht so ziemlich bei allen Fractionen eine geradezu heillose Verwirrung. 
„Welche Fractionsmitglieder man auch über das Schicksal der eingebrachten 
Vorlagen befragt, regelmäßig und übereinstimmend bekommt man die Ant- 
wort, darüber könne heute noch Niemand etwas sagen, man müsse erst die 
neueren Verhandlungen abwarten. Für so irrationell auch der vorge- 
schlagene Steuererlaß fast überall erklärt wird. so besteht darüber kein 
Zweifel, daß, wenn eine Fraction sich trotz des vorhandenen Defizits zur 
Bewilligung eines Steuererlasses verstehen wird, alsdann auch fast alle 
Fractionen des Hauses einem solchen Beschlusse sich nicht widersetzen werden. 
Darin liegt ja eben die politische Taktik des Reichskanzlers, die diesen 
Steuererlaß auf die bevorstehenden Wahlen gemünzt hat; denn es steht trotz 
aller gegentheiligen Behauptungen positiv fest, daß der Reichskanzler diese 
Maßregel, die er noch weiter ausgedehnt wissen wollte, dekretirt hat.“ Die 
Regierung hat übrigens doch nur einen einmaligen Steuererlaß vorge- 
 
	        
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