Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

10 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 10.) 
das Nothwendige hinaus zu verausgaben. Auch ist die Frage, ob nicht 
unbeschadet der Kriegstüchtigkeit eine Abkürgung der Präsenzzeit ausführbar 
wäre, einer ernstlichen Prüfung zu unterziehen.“ Hiegegen gab Freiherr 
von Wöllwarth die Erklärung ab: „In Erwägung, daß jede noch so ernst- 
liche Prüfung der Frage der Präsenz für die nächste Zeit nach unserer 
Ueberzeugung eine Verkürzung derselben nicht zur Folge haben kann, be- 
dauern wir, daß wir der dießbezüglichen Forderung in dem Parteiprogramm 
nicht beizutreten vermögen.“ Diese Erklärung fand sofort zahlreiche Unter- 
schriften. Die Mehrheit der Versammlung nimmt den Paragraphen aber 
doch an. Das Parteiprogramm gipfelt im nebrigen in folgenden Sätzen: 
„Die deutsche Partei steht auf dem Boden der Reichsverfassung treu zu 
Kaiser und Reich, verbindet aber mit der Treue zum Reiche die Treue zur 
Landesverfassung und die Anhänglichkeit an erprobte heimische Institutionen. 
In der inneren Gesetzgebung des Reiches und des Landes verlangt die Partei 
die Durchführung der liberalen Principien des modernen Staates. Die Partei 
ist für gründliche Bekämpfung des Landstreicherthums, für Einführung der 
Dienstbücher, für Beschränkung des Hausirhandels und für eine Reform des 
Gesetzes betr. den Unterstützungswohnsitz. Die Partei erkennt die Nothwen- 
digkeit an, daß Sorge für die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse 
getragen werde; sie spricht sich gegen das Verlangen um Wiederaufhebung 
des Gesetzes über die bürgerliche Eheschließung aus, hält die Durchführung 
des bestehenden Münzgesetzes für geboten und betrachtet die Zollgesetzgebung 
für vorerst abgeschlossen. Die Auswanderungsfrage wünscht die Partei im 
Sinne der Aufnahme einer den Bedürfnissen des Reiches entsprechenden Ko- 
lonialpolitik behandelt zu sehen. Bei der schwierigen Finanzlage, in welcher 
in Folge der gesteigerten Anforderungen der Gegenwart und des Rückgangs 
wichtiger Einnahmeqnellen die meisten deutschen Staaten, unter ihnen auch 
Württemberg, sich befinden, erscheint es der Partei dringend geboten, im 
Reich wie im Lande in allen Zweigen der Staatsthätigkeit die Ausgaben zu 
beschränken und gewissenhafte Sparsamkeit zu üben. Insbesondere sind in 
Württemberg die Mittel und Wege auf das sorgfältigste zu prüfen, durch 
welche das Gleichgewicht im Staatshaushalt hergestellt werden kann. Die 
Partei hält es für nothwendig, daß die Ausgaben des Reiches durch eigene 
Einnahmen desselben bestritten und damit die Matricular- Umlagen beseitigt 
werden. Die Partei ist bereit zur Verwilligung von Reichssteuern, soweit 
das Bedürfniß überzeugend nachgewiesen, und die Tragweite und der Um- 
fang der Steuern zu überblicken ist. Unbedingt abzulehnen sind solche Reichs- 
steuern, welche, wie beispielsweise eine Ouittungssteuer, durch ihre Schwere 
oder die drückende Form ihrer Erhebung berechtigte Mißstimmung hervor- 
zurufen geeignet sind, oder bei welchen die constitutionelle Stellung des 
Reichstags nicht gebührend gewahrt ist. Erforderlichen Falls würde die 
Partei zu Beschaffung unumgänglich nothwendiger Einnahmen das Tabaks- 
monopol der Einführung lästiger, Verkehr und Erwerb hemmender Steuern 
vorziehen." 
10. Januar. (Elsaß-Lothringen.) In Colmar wird bei 
der Wahl zum Landesausschusse der Candidat der vereinigten Cleri- 
calen und Protestler Grad geschlagen und der Autonomist Ober- 
landesgerichtsrath Scheuch mit 37 gegen 29 Stimmen gewählt. 
Der Gewählte ist ein geborener Elsässer und hatte seine Anschauungen 
und Bestrebungen in einem Schreiben an die Wähler dahin präcisirt: 
,, . . . .  Was ich anstrebe? Ich will durch Erhöhung der Productionskräfte 
des Landes an dessen Wohlfahrt mitarbeiten; ich will durch eine ernstlich
	        
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