Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 14.) 15
Oberen. In demselben Maße, als die Verwaisung der Pfarreien zunahm,
war Aussicht vorhanden, den staatstreuen Geistlichen weiteren Einfluß zu
verschaffen. Der fünfte Artikel des Juligesetzes, der den Hetzgeistlichen die
verwaisten Pfarreien auslieferte, hat diese Möglichleit genommen, und wäh-
rend man im Landtage über die Werthlosigkeit des Gesetzestorsos und die
steigende Religionsnoth der Bevölkerung declamirte und im Namen des katho-
lischen Volkes gegen das Gesetz stimmte, verbreitete sich in den katholischen
Landestheilen Jubel und Triumphgeschrei. Man baute den in die verwaisten
Pfarreien einziehenden Geistlichen Triumphbogen und holte sie zur ersten
Messe mit Fahnen und Guirlanden ab. Der Staat ist besiegt; er wird in
kurzem völlig nachgeben — so lautete der Anfang und der Schluß aller
Predigten, so die siegesfrohe Hoffnung der renitent gebliebenen Pfarreien.
Der gleichzeitig erfolgende Einzug der Geistlichen in die Schulen und sogar
in die Schulinspectionen konnte diese Hoffnung nur bestärken, die Stellung
der staatstreuen Geistlichen nur noch doppelt erschweren. Schon aus Rück-
sicht auf diese, die doch wahrhaftig Rücksicht verdient haben, hätte man
manches nicht thun dürfen, was seit einem Jahre geschehen ist. — Durch
das Juligesetz hat die Regierung ihre wesentlichste Waffe im Culturkampf
aus der Hand gegeben; wenigstens für mindestens noch 10 bis 15 Jahre;
denn bis dahin werden die vorhandenen Geistlichen reichlich genügen, alle
erledigten Pfarreien mitzuversehen. Daß Rom aber nur im äußersten Falle,
nur auf Trümmern nachgibt, dann aber auch stets nachgibt, das weiß man
überall nur im preußischen Cultusministerium, wie es scheint, neuerdings
nicht mehr. — Doch mit dem halben Siege ist das Centrum nicht zufrieden.
Es möchte nicht nur für 10 bis 15 Jahre, es möchte den Staat dauernd
im Culturkampfe lahm legen. Und das geschähe, wenn nicht nur gesetz-
mäßig angestellte Geistliche. sondern wenn überhaupt alle Geistlichen die
Sacramente straflos spenden dürften. Wenn der §5 des Juligesetzes dahin
erweitert würde, so hätte der Staat den Culturkampf überhaupt verloren,
weil er ihn nie gewinnen könnte. Die ganze Schaar der seit 1873 geweihten
jungen Geistlichen träte mit einem Schlage in die Seelsorge ein, und wo
ein Geistlicher hinfort stürbe, da erschiene alsbald ein anderer, der nach Be-
dürfniß Messe läse und die Sacramente spendete. Wo der Beichtstuhl frei
ist, mag die Kanzel gesperrt sein, das verschlägt bei den katholiken nichts.
Die unsichtbare Hierarchie der katholischen Sprengel würde die freie, vom
Staat losgelöste Clerisei wie Drahtpuppen regieren und am zeitlichen und
leiblichen Auskommen würde es den Geistlichen, welche in den erledigten
Pfarreien „Messe läsen und Sacramente spendeten“, eben so wenig fehlen,
wie es jetzt den „Gesperrten“ daran fehlt. — Daß dieser Windthorstsche An-
trag überhaupt, ans Parlament gebracht werden konnte, daß die ultramon-
tane Presse, die „Germania“ vorab, ihn mit ernstem Gesicht —- wie mögen
die Eingeweihten gelacht haben, als sie es lasen! — als etwas ganz Harm-
loses, für die Geistlichen Gleichgültiges, mit der Stellung der einen oder
anderen Seite im Culturkampf gar nicht im Zusammenhang Stehendes der
Regierung empfiehlt, beweist besser als alles andere, ein wie großes Maß
von Unkenntniß aller katholischen Dinge man ultramontanerseits dem jetzigen
preußischen Cultusministerium glaubt zutrauen zu dürfen.“
Von einer Annahme des Antrags Windthorst seitens des Abg.-Hauses
ist indeß keine Rede. Eine officiöse Note der Regierung erklärt, daß diese
ihn entschieden von der Hand weise, weil dadurch die Maigesetze in der That
vollkommen illusorisch gemacht würden; Rom möge erst die Anzeigepflicht
erfüllen. Ferner nimmt man an, daß wenigstens die nat. lib. und die frei-
conserv. Fraction geschlossen gegen den Antrag stimmen werden.