Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

20 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 15.) 
gegen die bestehenden Vorschriften herbeigeführt, so haftet nach § 36 der   
Unternehmer für alle Ausgaben. § 37 bestimmt, wer bei Bauten als Be- 
triebsunternehmer gilt. Die § 38 —41 stellen die Geldstrafen fest für 
Zuwiderhandlungen gegen das Gesetz. § 42 stellt fest, daß der § 2 des 
Gesetzes von 1871, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadenersatz u. s. w., 
nicht ferner Anwendung findet. § 43 gestattet Arbeitern, eine weitere Ver- 
sicherung für eigene Rechnung bei der Reichsversicherungsanstalt abzuschließen. 
Ebenso können nach § 44 für die im Dienst Anderer beschäftigten gewerb- 
lichen Arbeiter, für welche das Gesetz nicht verbindlich ist, Versicherungen 
abgeschlossen werden. Nach § 45 kann durch Beschluß des Bundesraths der 
Geschäftsbetrieb der Reichsversicherungsanstalt auf Lebensversicherungen für 
die im Dienst Anderer beschäftigten gewerblichen Arbeiter bis zum Betrage 
von 6000 Mark ausgedehnt werden. § 46 bestimmt, daß den Versicherungs- 
nehmern hinsichtlich des Abschlusses der Versicherungen und der Einzahlung 
der Prämien thunlichst dieselben Geschäftserleichterungen zutheil werden 
sollen, welche für die gesetzlich nothwendigen Versicherungen Platz greifen. 
Nach § 47 endlich wird der Zeitpunkt, mit welchem dieses Gesetz in Kraft 
tritt, durch kaiserliche Verordnung im Einvernehmen mit dem Bundesrath 
bestimmt. 
 Dem Unfallversicherungs-Gesetz-Entwurfe sind sehr umfang- 
reiche Motive beigegeben. Dieselben gehen zunächst davon aus, daß schon 
bei Berathung des Sozialistengesetzes auf die Nothwendigkeit hingewiesen 
wurde, die bedenklichen Erscheinungen durch positive, die Verbesserung der 
Lage der Arbeiter abzielenden Maßnahmen Zu bekämpfen 
„Wohl ist die Hoffnung berechtigt, daß die allgemeine Besserung, 
welche von der neuerdings befolgten nationalen Wirthschaftspolitik für die 
Entwickelung des heimischen Gewerbefleißes erwartet werden darf, auch den 
Arbeitern durch eine allmähliche Erhöhung des Arbeitsverdienstes und durch 
Verminderung der Schwankungen desselben zu gute kommen wird, doch ist 
nicht zu verkennen, daß in der Unsicherheit des lediglich auf der Verwerthung 
der persönlichen Arbeitskraft beruhenden Erwerbes, welche auch bei normaler 
Entwickelung der heimischen Gewerbsthätigkeit niemals ganz beseitigt werden 
kann, Mißstände begründet sind, welche zwar auch durch gesetzgeberische Maß- 
nahmen nicht völlig aufzuheben sind, deren allmähliche Milderung aber auf 
dem Wege besonderer, die eigenthümlichen Verhältnisse der Arbeiter berück- 
sichtigender Gesetzgebung ernstlich in Angriff genommen werden muß. — 
Daß der Staat sich in höherem Maße als bisher seiner hilfsbedürftigen Mit- 
glieder annehme, ist nicht bloß eine Pflicht der Humanität und des 
Christenthums, von welchem die staatlichen Einrichtungen durchdrungen 
sein sollen, sondern auch eine Aufgabe staatserhaltender Politik, welche 
das Ziel zu verfolgen hat, auch in den besitzlosen Classen der Bevölkerung, 
welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, die 
Anschauungen zu pflegen, daß der Staat nicht bloß eine nothwendige, 
sondern auch eine wohlthätige Einrichtung sei. Zu dem Ende 
müssen sie durch erkennbare directe Vortheile, welche ihnen durch gesetzgebe- 
rische Maßregeln zu Theil werden. dahin geführt werden, den Staat nicht 
als eine lediglich zum Schutz der besser situirten Classen der Gesellschaft er- 
fundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende 
Institution aufzufassen. — Das Bedenken, daß in die Gesetzgebung, wenn 
sie dieses Ziel verfolge, ein sozialistisches Element eingeführt werde, 
darf von der Betretung dieses Weges nicht abhalten. Soweit Dieß wirklich 
der Fall, handelt es sich nicht um etwas ganz Neues, sondern um eine 
Weiterentwicklung    der aus der christlichen Gesittung erwachsenden modernen 
Statsidee, nach welcher dem Staat neben der defensiven, auf den Schutz be- 
 
	        
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