Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 15.) 21
stehender Rechte abzielenden, auch die Aufgabe obliegt, durch zweckmäßige
Einrichtungen und durch Verwendung der zu seiner Verfügung stehenden
Mittel der Gesammtheit das Wohlergehen aller seiner Mitglieder und na-
mentlich der schwachen und hülfsbedürftigen positiv zu fördern. In diesem
Sinne schließt namentlich die gesetzliche Regelung der Armenpflege,
welche der moderne Staat im Gegensaße zu dem des Alterthums und des
Mittelalters als eine ihm obliegende Aufgabe anerkennt, ein sozialislisches
Moment in sich, und in Wahrheit handelt es sich bei den Maßnahmen,
welche zur Verbesserung der Lage der besitzlosen Classen ergriffen werden
können, nur um eine würdigere Ausgestaltung der staatlichen
Armenpflege und um eine Weiterentwickelung der dieser bereits zu
Grunde liegenden Idee. — Auch die Besorgniß, daß die Gesetzgebung auf
diesem Gebiete namhafte Erfolge nicht erreichen werde, ohne die Mittel des
Reichs und der Einzelstaaten in erheblichem Maße in Anspruch zu
nehmen, darf von der Betretung des Weges nicht abhalten. Allerdings
können mit einer einzelnen Maßregel, wie sie gegenwärtig vorgeschlagen wird,
die Schwierigkeiten, welche die soziale Frage bietet, nicht gänzlich oder auch
nur zu einem erheblichen Theile gehoben werden; es handelt sich vielmehr
nur um den ersten Schritt auf einem Gebiete, auf welchem eine Jahre
lang fortzusehende schwierige Arbeit mit Vorsicht und allmählich zu bewäl-
tigen sein und die Lösung einer Aufgabe wieder neue Aufgaben
erzeugen wird. Daß aber dieser erste Schritt nicht länger hinausgeschoben
werden dürfe, ist die Ueberzeugung, auf welcher die Einbringung der gegen-
wärtigen Vorlage beruht, und das Präsidium des Bundesraths würde, selbst
wenn die Hoffnung, eine Vorlage dieser Art von den Faktoren der Reichs-
gesetzgebung auf den ersten Versuch angenommen zu sehen, geringer wäre,
als sie es in der That ist, für Pflicht halten, der Erfüllung der Zusagen
und Wünsche näher zu treten, welche bei den Verhandlungen über das Gesetz
betr. die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, von mehr
als einer Seite ausgesprochen sind. — Der Einführung einer allge-
meinen Invaliden-, Wittwen- und Waisenversorgung auf dem
Wege des gesetzlichen Versicherungszwanges stehen auch bei Be-
schränkung dieser Regelung auf die Fabrikarbeiter erhebliche
Schwierigkeiten entgegen, welche theils in der Nothwendigkeit einer
gesetzlichen Abgrenzung der dem Versicherungszwange zu unterwerfenden Ar-
beiterklassen, theils in dem häufigen Orts- und Berufswechsel der Arbeiter
beruhen. Ob es möglich ist, diese Schwierigkeiten zu überwinden, kann für
jetzt dahingestellt bleiben, da die Durchführung einer gesetzlichen Regelung
dieser Art Mittel erfordern würde, welche die industriellen Unternehmungen
allein nicht aufzubringen vermögen, wenn sie dem Auslande gegenüber con-
currenzfähig bleiben sollen, und welche weder dem Reiche, noch den Bundes-
staaten bisher zu Gebote stehen. Die Betretung dieses Weges ohne Heran-
ziehung von Staatshilfe schließt die Gefahr einer Ueberlastung der Kräfte
der Betheiligten, also einer Auflösung ihrer Unternehmungen in sich, welche
auch für die Arbeiter größere wirthschaftliche Mißstände zur Folge haben
würde, als diejenigen, welche jetzt belämpft werden sollen; eine Gefahr, welche
bei dem gegenwärtigen Stande der Industrie und der Arbeitslöhne beson-
ders schwer ins Gewicht fällt. Es entspricht daher der auf diesem Gebiete
gebotenen Vorsicht, daß sich die Gesetzgebung zunächst darauf beschränkt, die
minder schwierige und geringere Opfer erfordernde Aufgabe
der Sicherung der Arbeiter und ihrer Hinterbliebenen gegen
die wirthschaftlichen Folgen der Unfälle ihrer Lösung entgegen-
zuführen. — Diese Beschränkung enthält nicht nothwendig den Verzicht
auf weitere Ziele, wenn solche nach Maßgabe der zu gewinnenden Er-