Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 15.) 23 
zu übersehen, daß die zu erlassenden Vorschriften mit einer den Forderungen 
der Gerechtigkeit einigermaßen entsprechenden Gleichmäßigkeit bemessen wer- 
den könnten: ganz zu geschweigen der weiteren Schwierigkeit, welche einer 
gesetzlichen Fixirung dieser Forderungen daraus erwachsen würde, daß die 
für die letzteren maßgebenden technischen und sonstigen Verhältnisse vielfachem 
und oft raschem Wechsel unterworfen sind. Wollte man sich aber Angesichts 
dieser Schwierigkeiten darauf beschränken, die an den Unternehmer zu stellen- 
den Forderungen durch eine allgemeine Bestimmung von „den bestehenden 
Vorschriften““ oder von „„Erfahrung und Wissenschaft"" abhängig zu 
machen, wie es nach den bei Berathung des Gesetzes abgelehnten Anträgen 
geschehen sollte, so würde sich in Folge der Verschiedenheit, sei es der „„gel- 
tenden Vorschriften““ sei es des Urtheils über die Forderungen der „„Er- 
fahrung und Wissenschaft““ in der practischen Handhabung des Gesetzes eine 
Ungleichmäßigkeit herausstellen, welche schwerlich lange ertragen werden würde. 
— Das Hauptbedenken gegen diese Art der Regelung besteht aber darin, 
daß der gegenwärtige Zustand nicht wesentlich verbessert werden würde. 
Allerdings würde sich die Zahl derjenigen Arbeiter, welche für die durch 
Unfall verlorene Erwerbsfähigkeit Ersatz erhielten, vielleicht nicht unerheblich 
vermehren, ob aber die Wohlthaten des Gesetzes gerechter, vertheilt werden 
würden, ist zu bezweifeln, und keinesfalls würde das Ziel erreicht werden, 
daß den Arbeitern in allen Fällen, in welchen es der Billigkeit und dem 
Interesse der Gesammtheit entspricht, jener Ersatz in einer Weise gesichert 
würde, welche keine zu schwere Belastung der Industrie zur Folge haben 
und keine ungünstige Rückwirkung auf das Verhältniß zwischen Arbeitgebern 
und Arbeitern ausüben würde. Jede Regelung, welche den Anspruch des 
Arbeiters von einem wirklichen oder fingirten Verschulden des Unternehmers 
abhängig macht, ist mit der Gefahr verbunden, daß über das Vorhandensein 
dieses Verschuldens in jedem einzelnen Falle der Anwendung Zweifel ent- 
stehen. Auch die sorgfältigste Abmessung der Voraussetzungen, unter denen 
das Verschulden angenommen werden soll, vermag nicht zu verhindern, daß 
der Zweifel in zahlreichen Fällen zu einer Quelle von Rechtsstreitigkeiten 
werde. Damit bleibt es aber mehr oder weniger dem Zufalle überlassen, 
ob die einzelnen Arbeiter der Wohlthaten des Gesetzes in gleichmäßiger Weise 
theilhaftig. werden, und ebenso bleibt der verbitternde Einfluß, welchen der 
gegenwärtige Rechtszustand auf das Verhältniß wischen Arbeitgebern und 
Arbeilern ausübt, in ungeschwächter Kraft bestehen.“ 
„Wenn der Versuch, die Lage der Arbeiter durch Verschärfung der 
Haftpflicht zu verbessern, einen befriedigenden Erfolg nicht in Aussicht stellt, 
so kann doch die Frage, in welchem Maße und auf welche Weise die Ar- 
beiter gegen die wirthschaftlichen Folgen der Unfälle gesichert werden sollen, 
nicht auf sich beruhen bleiben. Ein Stillstand oder gar ein Rückschritt auf 
diesem Gebiete der  Gesetzgebung würde den staatlichen Aufgaben der Gesetz- 
gebung ebensowenig, wie dem Interesse der Industrie entsprechen. Dagegen 
wird eine Regelung, welche die auf Sicherung der Arbeiter gegen die wirth- 
schaftlichen Folgen der Unfälle gerichtete Forderung in gerechtem Umfange 
für einen möglichst weiten Kreis befriedigt, unter denjenigen Maßregeln, 
welche zur Verbesserung der Lage der Arbeiter in Frage kommen können, 
als eine der nächstliegenden und fruchtbarsten anzuerkennen sein, zumal da- 
durch für eine nicht geringe Zahl von Fällen dem Bedürfniß der Invaliden-, 
Wittwen- und Waisenversorgung entsprochen wird. Nach der dem vor- 
liegenden Gesetzentwurfe zu Grunde liegenden Auffassung kann diese Rege- 
lung nur auf dem Wege herbeigeführt werden, daß die auf dem Gesetze 
vom 7. Juni 1871 beruhende Haftpficht der Unternehmer gegen- 
über ihren Arbeitern durch eine öffentlich rechtlich geregelte 
  
 
	        
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