Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

26 Das deulsche Reich und seine einzelnen Glirder. (Jan. 15.) 
nicht nur durch zweckmäßige Betriebseinrichtung und Leilung, sondern auch 
durch richtige Auswahl und forgfältige Disciplinirung der von ihnen be- 
schäfligten Arbeiter. — Wenn hiernach einer gleichen Vertheilung der Ver- 
sicherungsprämie auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer die nach beiden Seiten 
zu nehmenden Rücksichten der Billigkeit nicht entgegenstehen würden, so wird 
doch aus praktischen Gründen die Durchführung derselben nur in sehr be- 
schränktem (Umfange thunlich sein. Bei einer großen Masse unserer Arbeiter 
reicht der Lohn nur eben zur Bestreitung der nach den socialen Zuständen 
unentbehrlichen Lebensbedürfnisse. Soll der Arbeiter darüber hinaus Ver- 
sicherungsprämien zahlen, so müßte zur Bestreitung derselben entweder die 
Lrbeushallung des Arbeiters diesem Betrage rnksprechend herabgedrückt oder 
ein Lohn erhöht werden. — Es liegt in der Zahlung desjenigen Theils 
der Prämie, welcher nach billiger Vertheilung den Arbeitern zufallen würde, 
von diesen aber mit Rücksicht auf ihre wirthschastliche Lage e• gefordert 
werden kann, eine Unterstühung Hilfsbedürftiger. e Pflicht der 
Fürsorge für Hilfsbedürftige aber kaun wohl privatlich aen Hohe eines 
Berschuldens den Einzelnen treffen. Abgesehen davon, ist diese Fürsorge 
eine Aufgabe, welche als Ergebniß der modernen christlichen Staatsidee 
lediglich der Gesammtheit obliegt. Es erscheint darum gerechtfertigt, die 
auf die Arbeiter fallende Hälfte der Versicherungsprämie, soweit sie diesen 
selbst mit Rücksicht auf ihre wirthschaftliche Lage nicht auferlegt werden 
kann, wenigstens zum größeren Theile von den Trägern der 
öffentlichen Arwenlast zahlen zu lassen. Der Gesetzentwurf nimmt 
daher eine Vertheilung in Aussicht, nach welcher, soweit die Arbeiter nicht 
selbst zu einem Beitrage herangezogen werden, die Versicherungsprämie zu 
zwei Drittel von den Arbeitgebern und ein Dritlel von den Trägern der 
öffentlichen Armenlast zu bestreiten ist. Ob ein Arbeiter mit der Prämien= 
zahlung zu verschonen ist, würde zwar an sich in jedem einzelnen Falle 
davon abhängig zu machen sein, ob sein Verdienst so hoch steht, daß ihm 
nach Bestreitung der nothwendigsten Hcbensbedirrsniss noch ein Theil des- 
selben zu freier Verwendung übrig bleibt, eine Frage, welche auch bei 
gleicher Lohnhöhe je nach den verschiedenen s sehr verschieden zu 
beantworten sein würde. Es liegt aber auf der Hand, daß es undurch- 
führbar sein würde, über die Heranziehung oder Nichtheranziehung in jedem 
einzelnen Falle zu entscheiden. Es muß daher eine bestimmte, hufierlich 
erkennbare Grenze gezogen werden, bis zu welcher allen Arbeitern ohne 
Nücksicht auf ihre individnellen Verhältnisse die Vefreinng eingeräumt wird. 
Diese Grenze wird nur in einem bestimmten Jahresbetrage des Arbeitsver- 
dienstes gefunden werden können, und der letztere wird so bemessen werden 
müssen, daß nur diejenigen Arbeiter zu Beiträgen herangezogen werden, 
welche sich vermöge der Höhe ihres Lohnes in ihren wirthschaftlichen Ver- 
hältnissen über die große Masse der Arbeiler erheben. Der Entwurf will 
daher die Befreiung von Beiträgen allen D Denjenigen einräumen, deren jähr- 
licher Arbeitsverdienst die Summe von 750 “ nicht übersteigt. Wenn 
durch diese Grenzbestimmung die Fefrriung einer nicht unerheblichen Zahl 
von Arbeitern zu Theil werden wird, welche nach ihren individuellen Ver- 
hältnissen zur Zahlung eines Beitrags noch im Stande sein würden, so 
rechtfertigt sich Dieß durch die Erwägung, daß dieser Erfolg bei einer Maß= 
regel, welche bestimmt ist, die Lage der Arbeiter zu verbessern, weniger be- 
deuklich ist, als bie Folge einer zu niedrig gegogenen Grenze, welche darin 
bestehen würde, daß zahlreiche Arbeiter mit Beiträgen belastet würden, zu 
deren Leistung sie nicht im Stande sind. Eine Unbilligkeit gegen die Träger 
der öffentlichen Armenlast wird hiernach in der fraglichen Grenzbestimmung 
nicht gefunden werden können. 
  
  
  
 
	        
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