Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

554 Aebersicht der politischen Entwichlung des Jahrts 1881. 
Tage: der südliche Theil von Algerien war schon in voller Insur- 
rection gegen sie und die ganz und halb unabhängigen Araberstämme 
durchstreiften ungestraft weite Strecken zerstörend und raubend, wäh- 
rend in Südtunis ein förmlicher Aufstand gegen die neue Fremd- 
herrschaft ausbrach, dem die Bevölkerung des nördlichen Theils im 
Aufstand Stillen die vollste Sympathie entgegentrug. Der Muhamedanismus 
smier. schien in diesen Gegenden seine letzten Kräfte zusammen zu fassen 
brrich und flammte noch einmal in einer gewaltigen Neaktion gegen die 
Ungläubigen, die Franzosen und ihre Ausdehnungstendenzen auf. 
Sie wurden des Aufstandes allerdings Meister noch vor dem Schlusse 
des Jahres, aber nur mit großen Opfern und nicht ohne in ihrem 
Prestige gegen alle ihre Erwartung eher einzubüßen, als zu gewinnen. 
Die erste Expedition wider Tunis Ende April und Anfang Mai war 
für alle Welt mehr oder minder doch eine Ueberraschung gewesen 
und hatte sich eben darum als eine Art vortrefflich in Scene ge- 
setzten „Spaziergangs nach Tunis“ gestaltet, der dem National- 
character der Franzosen ganz entsprach und ihnen große Befriedigung 
gewährte, obgleich sie schon diese mit der Feindschaft des noch immer 
nicht ganz ohnmächtigen Sultans, mit dem Mißtrauen Englands, 
dem Neide der Spanier und dem Groll so wie der definitiven Ent- 
fremdung Italiens hatten bezahlen müssen. Jetzt erst kamen die 
Schwierigkeiten, der förmliche und nach orientalischer Weise lang- 
wierige, nicht mit raschen Schlägen zu bewältigende Aufstand der 
eingebornen Bevölkerung von Algerien und Tunesien, die schweren 
Lasten und Opfer für Frankreich. Mit leichtem Blut waren die 
Franzosen nach Tunis gegogen, hatten die Campagne so zu sagen 
elegant durchgeführt und schließlich den Bardo-Vertrag mit eben so 
leichtem Blut in die Tasche gesteckt, als ob damit nun alles be- 
endigt und abgemacht sei. Jetzt gingen ihnen die Augen auf und 
die frühere Befriedigung schlug nach und nach in ziemlich weiten 
Kreisen in das gerade Gegentheil um. Man kann nicht sagen, daß 
die Franzosen nichts vergessen und nichts gelernt haben: die große 
Lehre, die sie 1870/71 empfangen haben, sitzt ihnen noch in allen 
Gliedern und sie haben eine heilige Scheu vor allen „Abenteuern"“, 
wie sie es selbst nennen, und doch hatten sie sich in Tunis unbedacht 
wieder in ein solches Abenteuer eingelassen. Und auch jetzt scheint 
die Regierung nicht den ganzen Ernst der Lage eingesehen zu haben 
oder sie wagte es nicht, die durchaus erforderlichen umfassenden 
Maßregeln ins Werk zu sehen und dem Lande klaren Wein einzu-
	        
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