32 Has deulsche Neich und seine einzel#en Slieder. (Jan. 18.)
sei“. Fast gleichzeitig beauftragt das bayerische Ministerium des
Innern die kgl. Regierungen, durch die Districtspolizeibehörden dieser
Agitalion die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden und dafür Sorge
zu tragen, daß gegebenen Falls durch aufklärende Belehrung und,
soweit nöthig, durch Geltendmachung gesetzlicher Mittel der Bewegung
im erslen Entstehen wirksam entgegen getreten werde.
Die Antisemiten-Bewegung hat zwar allerdings auch in Süddeuksch-
land hie und da lebhaften Anklang gefunden, doch kam es dort bisher nir-
gends zu einer förmlichen Agitation mit Versammlungen, Vereinen u. dgl.
Diese blieb vielmehr auf Norddentschland und dort wesentlich auch auf
Berlin beschränkt, wo sie von Hofprediger Stöcker und seiner sog. christlich-
sozialen Partei schwunghaft fortgesetzt wird, wo es sich aber vornehmlich da-
rum zu handeln scheint, dem bisher allein herrichenden Fortschritts- Liberalis=
mus ein Gegengewicht zu schaffen und die populäre Frage ein bequemes
Mittel dazu bot. Uebrigens ist es unlängbar, daß die Agitation sich auf
eine wirklich wunde Stelle im Volksleben stützt, aber auch unzweifelhaft.
daß sie auf diesem Wege einer theilweise geradezu wüsten Demagogie gan)
unmöglich zu einem vernünfligen Ziele führen kann, einer wahrhaft reli=
giösen Gesinnung im Volke nur sehr wenig förderlich sein dürfte, für die
schlummernden Volksleidenschaflen aber sehr gefährlich ist. Die Anschauungen
über die Agitation sind denn auch in der swehrichnnn Geistlichkeit selbst
sehr gelheilt und Viele sind mit dem Auftreten Stöckers ganz und gar nicht
einverstanden. In Königsberg untersagt das Consistorium in einer Ver-
fügung den Geistlichen ausdrücklich jede Theilnahme an der Bewegung.
18. Januar. (Preußen.) Die „Nordd. Allg. Ztg.“ bringt
Enthüllungen über den Rücktritt des Finanzministers Camphausen,
um, wie sie sagt, „dem in der Presse herrschenden Eindruck zu be-
gegnen, als ob Fürst Bismarck den Minister gegen dessen Willen
aus dem Amte gedrängt habe, während Camphausen doch durch den
(freihändlerischen und fortschrittlichen) Abg. Bamberger parlamen-
tarisch „„abgeschlachtet““ worden sei.“
Die Enthüllungen besltehen aus einigen während der damaligen Krisis
au den inzwischen verstorbenen Staatsminister v. Bülow gerichteten Privat-
briesen des Reichskanglers. In einem ersten Schreiben, datirt Varzin, den
15. December 1877, heißt es: „Neben der Sienerreform und der Fertig-
stellung der im militärischen Interesse erforderlichen Eisenbahnen gehört die
Verwirklichung der Reichsverfassung bezüglich des Eisenbahnwesens zu den-
jeuigen Fragen, von deren Lösung ich meinen dauernden Wiedereintrikt in
die Geschäfte abhängig machen muß. Wenn die Ausführung des auf diesen
Gebieten für nothwendig Erkannien nicht durch ausreichende und spontane
Mitwirkung aller in Preußen dazu competenten Organe sichergestellt werden
kann, so werde ich zwar, wenn meine Gesundheit es irgend gestattet. zum
nächsten Reichslage erscheinen, aber nur um die Gründe meines definitiven
Rücktrilts öffentlich darlegen zu können. Ich werde nicht verschweigen kön-
nen, daß ich keine Aussicht zu haben glaube, für die Behandlung der oben
erwähnten Fragen in Preuszen das Maß freiwilliger Mitwirkung zu finden.
ohne welches ihre Lösung nicht möglich ist, und daß ich deßhalb bei ge-
schwächten Krästen die fernere Mitarbeit an den Geschäften ablehne. weil
ich mich unvermögend fühle, sie bezüglich wichtigerer Fragen in die Wege