Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Uebersichl der polilischen Eulwicklung des Johres 1881. 607 
derer wirklich jenen Rechnungswerth repräsentirten, so würde der 
allergrößte Theil derselben sicher gar nicht auswandern; denn er 
thut es doch nicht aus bloßem Uebermuth. Nein, sie bilden viel- 
mehr einen Bevölkerungsüberschuß, der in der nationalen Wirth- 
schaft keine oder doch keine lohnende Verwendung finden kann, für 
diese mehr oder weniger überflüssig ist und daher keinen oder doch 
nur einen fehr geminderlen Werth repräsentirt; der Einzelne wandert 
eben darum aus, weil er glaubt, daß dieser Werth anderwärts höher 
werde angeschlagen werden. Oder man ruft nach Colonien, nicht 
sowohl im Interesse der Auswanderer, sondern vielmehr im Interesse 
des Mutterlandes, nicht weil die Auswanderer in eigenen deutschen 
Colonien leichter sich eine neue, lohnende Existenz schaffen könnten 
als irgendwo sonst, sondern weil Colonien mit der Zeit, in 40 oder 
50 Jahren, dem Mutterlande vielleicht zum Vortheil gereichen könn- 
ten. Das ist doch eine sehr eigennützige Auffassung. Gilt denn das 
Schicksal so vieler Tausende von Auswanderern selbst im Grunde so 
gar nichts? Warum denkt man nicht lieber daran, von der ameri- 
kanischen Unionsregierung oder von den dortigen großen Eisenbahn- 
gesellschaften, die beide über solche verfügen, große zusammenhängende 
Landcomplexe in geeigneter Lage zu kaufen und in Amerika eigene 
Agenten und Auskunftsbureaux aufzustellen, welche dem Auswanderer 
mit Rath und That an die Hand gingen und ihm Land, so viel er 
wünscht und bezahlen kann, zum Selbstkostenpreis wieder abließen. 
Die amerikanische Regierung oder die großen Eisenbahngesellschaften 
würden auf eine solche Transaction im eigenen Interesse sicher nur 
zu gern eingehen und der ganzen Operation, so weit es nur immer 
in ihren Kräften stände, jede nur mögliche Unterstützung leihen. In 
den Vereinigten Staaten finden die Auswanderer wenigstens überall 
die ersten Fundamente staatlicher Ordnung schon gelegt, die Schwie- 
rigkeiten, mit welchen sie zu kämpfen haben, sind, wenn auch immer- 
hin groß genug, doch jedenfalls viel kleiner als in einer erst zu grün- 
denden deutschen Colonie in Africa oder in der Südsee; sie könnten 
überdieß — und das wäre die Hauptsache — zusammen wohnen, 
sich gegenseitig unterstügen und zugleich ihre Nationalität leichter 
bewahren. Grundbedingung aber wäre, daß Deutschland diesen seinen 
Söhnen drüben nur mit gutem Rath, der wahrlich schon sehr viel 
werth wäre, an die Hand ginge, aber mit unbefangenem Nath aus- 
schließlich im Interesse der Auswanderer und ohne allen und jeden 
selbstfüchtigen Hintergedanken, daß also selbst jede Spur eines auch 
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