608 Nebersicht der politischen Enkwicklung des Jahres 1881.
nur moralischen Zwangs, den Strom der Einwanderer da= oder
dorthin förmlich lenken zu wollen, ausgeschlossen bliebe, daß der
Auswanderer die wirklich vollkommen freie Wahl hätte, den guten
Rath in Anspruch zu nehmen und ihm zu folgen, oder auch weder
das eine noch das andere zu thun; und daß die Unterstützung des
Mutterlandes in keiner Weise über den guten Rath hinausginge, der
Auswanderer also keinerlei materielle Hülfe zu gewärtigen hätte, auch
das Land, wenn er welches kaufen will, bezahlen müßte, höchstens daß
ihm darin gewisse, nicht zu weit gehende Facilitäten gewährt werden
könnten, wofern nicht schon das zu viel wäre. Deun der Staat kann
wohl für die einmal Ausgewanderten bis auf einen gewissen Grad sorgen,
aber die Auswanderung selbst zu begünstigen, liegt entschieden nicht in
seinem Interesse. Warum macht man nicht in dieser Nichtung wenig-
stens einen, wenn auch vorerst nur kleinen Versuch, statt von Colonien
bloß zu sprechen:? Das schlösse ja gar nicht aus, Colonien zu er-
werben, wenn sich dazu in geeigneter Lage 2c. 2c. Gelegenheit bieten
sollte, wozu aber, wie allgemein zugegeben wird, zur Zeit sehr wenig
Aussicht ist. Ein practischer Versuch wäre mehr werth als alle graue
Theorie; das Bessere ist oft geradezu ein Feind des Guten.
So steht Deutschland vor einer Reihe großer wirthschaftlicher
Fragen, wenn es sich an sie machen und ihre Lösung versuchen will.
Der Reichskanzgler hat dazu einen mächtigen Anstoß gegeben. Aber
gezwungen ist es dazu allerdings zunächst nicht. Seine Stellung nach
außen ist eine nicht nur ganz befriedigende, sondern gerade glänzende
und die Verhältnisse im Innern sind, das muß zugegeben werden,
nach allen Seiten noch leidliche. Es läge allerdings um so näher,
als zur Zeit innere politische Fragen von größerer Tragweite in
Deutschland gar nicht zur Entscheidung vorliegen. Die einzigen
mehr oder weniger politischen Fragen, welche die öffentliche Mei-
nung und die constitnirten Gewalten in Deutschland während des
Jahres 1881 neben der kanzlerischen Steuer= und Wirthschafts-
reform in Anspruch nahmen, war die Einbeziehung Hamburgs in die
Einheit des Reichszollgebietes und der kirchenpolitische Streit oder der
Tie sog. Kulturkampf in Preußen. Die Hamburger Frage wurde endlich
Ham, durch einen Vertrag zwischen der Reichsregierung und Hamburg und
— zwar in einer wesentlich befriedigenden Weise erledigt; der Reichstag
wird demselben seine Genehmigung nicht versagen können. Für den
Ausbau und die allmälige innere Befestigung des Reichs ist diefe
Erledigung der Frage jedenfalls ein Gewinn; ob sie indeß für die