Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

610 Nebersicht der politischen Entwicklung des Jahres 1881. 
die Conservativen verleiten möchten, zu vermeiden. Im besten Falle 
gibt der Staat thatsächlich nach und legt seine Waffen nach dem 
Ausdrucke des Reichskanzlers vorerst auf den Fechtboden nieder, um 
sie wenigstens dereinst vielleicht wieder aufnehmen zu können. Vorerst 
ist und bleibt das eine Niederlage des Staats und des Reichskanz- 
lers, die sich nicht bestreiten und nicht bemänteln läßt. Inzwischen 
ging das Jahr 1881 noch über den Vorbereitungen dazu hin, in- 
dem die preußische Regierung sich anschickte, die Mehrzahl der ver- 
waisten Bischofssitze wieder im Sinne Roms zu besetzen, das einige 
Mäßigung in der Form dem eisernen Kanzler gegenüber doch auch 
seinerseits für klug erachtet. Das weitere kann und wird nicht 
Der ausbleiben. Ein gang sonderbares Nachspiel dazu bot Bayern dar, 
aenielewo die Regierung des Königs, ohne dem Staat das Mindeste zu 
in vergeben, doch jeden eigentlichen Kulturkampf mit großer Gewandt- 
Bahern. heit zu vermeiden gewußt hat. Die katholische Bevölkerung Bayerns 
hat über irgend welche Beeinträchtigung oder Verkümmerung ihrer 
religiösen und kirchlichen Bedürfnisse durchaus nicht zu klagen. Aber 
die notorische Abneigung dieser Bevölkerung gegen das protestan- 
tische Preußen und der Eintritt Bayerns in das wiederhergestellte 
deutsche Reich unter der Hegemonie eben dieses protestantischen 
Preußens, sowie die Lorbeern, welche sich Windthorst und das ultra- 
montane Centrum in Preußen erworben hatten, ließen seit mehr 
als zehn Jahren eine Anzahl clericaler Heißsporne nicht schlafen. 
Das verhaßte Ministerium Lutz sollte gestürzt und dem König ein 
ultramontanes Regiment förmlich aufgezwungen werden. Allein 
der erste Ansturm mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen der 
II. Kammer mißlang und verlief schließlich ziemlich jämmerlich im 
Sande. Im Jahre 1881 fanden die Neuwahlen zur Abg. Kammer 
statt und brachten den ultramontanen Führern eine noch verstärkte 
Majorität von 88 elericalen gegen 71 liberale Stimmen ein. Allein 
die Aussichten der Vewegung gestalteten sich felbst dadurch nicht we- 
fentlich besser, zumal jene Mehrheit sofort in eine extreme und in eine 
mehr gemäßigte Partei zerfiel, die sich hinter den Coulissen unter ein- 
ander selbst eifrig bekämpften. Zu Ende des Jahrs war kaum mehr 
ein Zweifel darüber möglich, daß auch dieser erneuerte und verstärkte 
Ansturm sich an dem Willen des Königs, an der Festigkeit und Ge- 
wandtheit des Ministeriums und an der unzweifelhaften Abneigung 
der großen Majorität der I. Kammer gegen übertriebene Anforder- 
ungen und gewagte Experimente brechen wird. Auch in Baden er-
	        
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