Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

HDos deuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 26- 27.) 39 
Sie ist es, welche unter der Fahne des polilischen Katholicismus mit oder 
ahne, Bewaßtsein die Religion als Vorwand braucht für Erreichung poli- 
tischer Zwecke und Befriedigung weltlicher Leidenschaften. Mit einer solchen 
Parlei habe ich nichts gemein. Für meine religiöse Ueberzeugung von den 
Lehrwahrheiten der katholischen Kirche und für meine Anhänglichkeit an ihr 
rechtmäßiges Oberhaupt, den heiligen Bater in Rom, habe ich nicht nöthig, 
einen Beweis anzutreten. Ich habe für die Kirche gearbeitet, was ich 
konnte, und hoffe zu Gott, stets ihr getreuer Sohn zu bleiben. Aber ich 
anerkenne grundsätzlich den modernen Staat und weiß mich hiebei in Ueber- 
einstimmung mit dem Glaubensscha der katholischen Kirche und auch dem 
thatsachlichen Verhalten der ofsfiziellen Kirchenleitung in Nordamerika, in 
England, in Frankreich, in Oesterreich und in jo vielen auderen Ländern 
der gebildeten Welt. Ich hoffe, daß die Kirche sich immer mehr befreien 
und reinigen wird von jeder politischen Herrschsucht und von jeder erdhaften 
Begierde, von jeder irdischen Leidenschaft. Ich hoffe ferner, daß die Kirche 
immer mehr sich herbeilassen wird zu liebevoller Theilnahme an Allem, was 
den Pulsschlag der modernen Bölker bewegt, also für uns Deutsche namentlich 
auch zu positiv freundlicher Theiluahme an der von Golt gewollten Neu- 
gestaltung der staatlichen Verhältnisse deutscher Nation. Im allerentschiedensten 
Gegensatz zu der Centrumspartei erhebe ich das Banner des religiösen 
Katholicismus, welchem es zu thun ist um das Heil der Seelen, nur um 
das Heil der Seelen! Mag es sein, daß die Zahl derer, welche mit mir 
der gleichen Fahne zugeschworen haben, heute noch klein erscheint: wir haben 
keine sonftigen Nebenabsichten und Bundesgenossen: wir kämpfen einzig unter 
dem Zeichen der Erlösung, welchem der Sieg verheißen ist. Nicht im Kampf 
gegen Staat und Gesetz, sondern in Einvernehmen mit dem Staat und im 
Gehorsam gegen das Geseß ist der Weg zum Frieden nus gegeben: das 
haben wir in Baden gelernt, als im Winter 1879/80 gegen den Willen der 
ultramontanen Heher die Wiederherstellung der katholischen Seelsorge gelang. 
Ohne Freude und ohne Dank wurde diese große Errungenschaft von den 
badischen Ultramontanen ausgenommen, und ihr jehiger Dank besteht darin, 
daß sie sich auch äußerlich und formell der Centrumspartei auschließen, 
welche mit der preußischen Regierung in beständigem Kampfe liegt, während 
in unserem Lande das Volk sich der geordnetsten Seelsorge und des tiefsten 
religiösen Friedens erfreut und nichts mehr zu wünschen wäre, als daß alle 
katholischen Priesler für die religiösen Zustände des ihnen anvertrauten 
Volkes auch Alles thun würden, was ihnen zu thun erlaubt und mög- 
lich ist.“ 
26 —27. Jannar. Abg.-Haus: Debatte über den (schon zwei- 
mal abgelehnten und doch wieder eingebrachten) Antrag Windthorst 
betr. Straffreiheit des Sacramentespendens und des Messelesens. 
Der Cultminister v. Puttkamer erklärt sich Namens der Regierung 
gegen den Antrag und legt die thatsächliche Lage der Dinge mit 
Zahlenbelegen dar, wodurch dem Antrage und der von den Con- 
servativen (Rauchhaupt u. Gen.) vorgeschlagenen motivirten Tages- 
ordnung der Boden unter den Füßen weggegogen wird. Reden 
Windthorst's und Bennigsen's. Schließlich wird die Tagesordnung 
Rauchhaupt mit allen gegen die Stimmen der Conservativen und 
hierauf der Antrag Windthorst selbst mit 254 gegen 115 Stimmen
	        
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