82 Die Organisation des Staates. Die Staatsbehörden. 8 35
vorhin erwähnten Provinzialkommissäre, d. h. mit der Besorgung einer Reihe allgemeiner,
nicht nur ausschließlich die Verwaltung eines einzelnen Kreises berührender Angelegenheiten
betraut wurden. Im Jahre 1835 wurde die geschilderte Neuerung auch auf Rheinhessen aus-
gedehnt, und der Kreisrat in der Provinzialhauptstadt Mainz unter Aufhebung der bisherigen
Provinzialdirektion als Provinzialkommissär bestellt 7).
IV. Eine vollständige Umwandlung dieser Behördeneinrichtung erfolgte unter dem
Eindrucke der revolutionären Bewegung des Jahres 1848. Auf Grund eines Gesetzes vom
31. Juli 1818 (RBl. S. 217) wurde das ganze Staatsgebiet unter Aufhebung der bisherigen
Provinzialkommissäre und Kreisräte in zehn Regierungsbezirke eingeteilt, die je
einer Regierungskommission urnterstellt wurden. Den je aus mehreren Mit-
gliedern bestehenden Regierungskommissionen wurden im wesentlichen die Amtsbefugnisse
der aufgehobenen Behörden zugewiesen. Die bedeutsamste Neuerung aber besteht in der
Bestimmung, daß fortan für jeden Regierungsbezirk ein vom Volke?) gewählter,
mindestens 12—24 Mitglieder zählender Bezirksrat bestehen sollte, dem, abgesehen von
der Begutachtung einzelner bestimmter Angelegenheiten, namentlich dieverwaltungs-
richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit finanzieller Zumutungen des
Staates an die Gemeinden und über einzelne andere Fragen, sowie die Teilnahme an
der Verwaltung und Beaufsichtigung der Bezirksanstalten und
das Recht der Antragstellung und Beschwerdeführung in bezug auf die öffentlichen Interessen
des Bezirks übertragen wurde. Die Verwaltungsreform von 1848 bildet für Hessen den
ersten Versuch einer Heranziehung des Volks zur Teilnahme an der
Staatsverwaltung und war auch für die Rechtsentwicklung außerhalb Hessens von
großer Bedeutung 2). Sie hatte allerdings nur kurzen Bestand.
V. Schon im Jahre 1852 wurden die vorgenannten Regierungsbezirke und Regierungs-
kommissionen wieder aufgehoben und durch die Neuschaffung von Kreisen (26) und
Kreisräten ersetzt. Im folgenden Jahre erfuhren die 1848 er Bezirksräte den Ten-
denzen der Zeit entsprechend eine wesentliche Umgestaltung ihrer bisherigen Zuständigkeit
und Organisation: Von den nunmehr 15 Bezirksratsmitgliedern sollten fortan 12 von den
Bevollmächtigten der Gemeindevorstände, die übrigen drei von den Hoöchstbesteuerten des
Bezirks gewählt werden 4).
VI. Die umfassende Reformgesetzgebung von 1874 5) greift wieder auf die liberalen
Einrichtungen der 48 er Gesetzgebung zurück: Sie gibt nicht nur den Gemeinden eine
auf dem Gedanken der Selbstverwaltung beruhende freiheitliche Organisation, sondern sie
bringt den Grundsatz der Teilnahme der Verwalteten an der Verwaltung auch in der ge-
samten staatlichen Verwaltungsorganisation (abgesehen von den Zentralbehörden) zur
Durchführung. Sie stellt über die Ortsgemeinden als untere Kommunalverbände die Kreise
und Provinzen als höhere Kommunalverbände, gibt diesen selbständige, im wesentlichen aus
Wahlen der Bevölkerung hervorgehende Selbstverwaltungsorgane und betraut die letzteren
gleichzeitig mit der Wahrnehmung bestimmter Funktionen auf dem Gebiete der staatlichen
Verwaltung: Die wirtschaftlichen Funktionen der Selbstverwaltungskörper werden
getrennt von der Teilnahme ihrer Organe an der obrigkeitlichen Verwaltung des
1) Siehe Edikt v. 6. VI. 1832 (RBl. S. 365), VO. v. 20. VIII. 1832 ¾ S. 561);
Kreisratsinstruktion v. 20. IX. 1832 (RBl. S. 609), Edikt v. 4. II. 1835 (RBl. S. 37), Bek.
—. II. 1555 (RBl. S. 49), Dienstinstruktion f. d. Kreisräte in Rheinhessen v. 25. III. 1835
)
2 D. h. von den stimm-= und wahlberechtigten Staatsbürgern des Bezirks.
3) Besonders gilt dies für Baden, welches sich in seinem Gesetz v. 5. Okt. 1863 über die
Organisation der inneren Verwaltung viefsach auf hossiche Vorbilder stützt (s. die näheren Nach-
weisungen bei van Calker i. Jahrb. * R. II 28 f.).
4) Siehe Gesetz v. 28. I1#. 1852 (RBl. S. 201), “ v. 12. V. 1852 (RBl. S. 221, 229),
Bek. v. 18. XI. 1852 (RBl. S. 540), Gesetz v. 10. II. 1853 (RBl. S. 37).
5) Gesetz v. 12. VI. 1874. die innere Verwaltung und die Vertretung der Kreise und Pro-
vinzen betreffend (RBl. S. 251); Gesetz v. 13. Juni 1874, die Städteordnung fe d. Großh. H.
Tpois 299); Gesetz vom 15. Juni 1874, die Landgemeindeordnung f. d. Großh. H. betr.
43).