52 Das deusche Reich und seine einzelnen Glieder. (Febr. 1.)
1. Februar. (Deutsches Reich.) Parlamentarische Soirée
beim Fürsten Reichskanzler. Der Fürst spricht die Ansicht aus, es
sei die Armenlast, die Schullast und die Polizeilast den Gemeinden
abzunehmen und dem Staat zu übertragen.
Nach einem einläßlichen Berichte der „Nat.-Ztg.“ äußerte sich der
Fürst im Verlaufe des Gesprächs dahin: Die Gemeinden seien überbürdet;
es sei ein Mißbrauch, ein sehr tadelnswerther Mißbrauch, den Gemeinden
die Armenlast, die Schullast, die Polizeilast aufzubürden. Die Gemeinden
seien Organe des Staates, er könne ihre Thätigkeit in Anspruch nehmen,
aber müsse die Kosten tragen. Der Staat habe ein Interesse daran, daß die
Leute Etwas lernen, der Gemeinde sei es gleichgiltig. Wie kommen sie dazu,
zumal wenn es eine arme Gemeinde ist, dafür bezahlen zu müssen? Die Ab-
wälzung der Armenlast auf die Gemeinden sei eine willkürliche Vorschrift.
Er spreche über solche Fragen sehr gern seine Ansichten im engeren Kreise
aus, aber er sei zu schüchtern, damit an die Oeffentlichkeit zu treten. Er
habe ja im Parlament nicht immer nur mit sachlichen Erwägungen zu
kämpfen, sondern auch mit Flegeleien; er sei zu alt und diene dem Könige
zu lange, um sich mit Klopffechtern herumzuschlagen. Zurück zum Haupt-
thema. Man stehe an dem Anfange einer Gesetzgebung, die vielleicht einen
zehnjährigen Zeitraum ausfüllen könne. Er habe sich beschieden, sehr lang-
sam und vorsichtig vorzugehen und habe sich in manche Restrictionen gefügt,
die seine ursprünglichen Anregungen erfahren hätten. Aber man stehe doch
erst im Anfang. Mit der Erfüllung des Versprechens, durch positive Maß-
regeln die Sozialdemokratie zu bekämpfen, müsse Ernst gemacht werden.
Das Versicherungswesen müsse weiter ausgedehnt werden als nur auf Un-
fälle. Er hege die Ueberzeugung, daß der Staat die Aufgabe habe, kräftig
für diejenigen einzutreten, die ohne Mitwirkung des Staats enterbt sein
würden. Warum solle der Gedanke einer Altersversicherung nicht durchzu-
führen sein? Wenn jeder zur Arbeit untüchtig Gewordene mit einem Renten-
brief über 100 oder 200 Mark sich zurückziehen könne, so würden Tochter
und Schwiegertochter ihm keine Schwierigkeiten machen, ihn aufzunehmen.
Die Söhne freilich thun es nie. Er sei jetzt Handelsminister; allein er sei
in das Handelsministerium getreten, wie Odysseus unter die Freier. Seine
Aufgabe sei hier lediglich, für das Reich zu erobern. Dazu sei er als
Reichskanzler verpflichtet; ihm liege auch die Pflicht ob, den Eintritt der
Hansestädte in den Zollverein zu betreiben. Wenn er diese Pflicht vernach-
lässige, würde er ein höchst tadelnswerther Reichskanzler sein. (Der Aus-
druck, den er hier brauchte, war sehr viel stärker, aber es ziemt uns nicht
ihn zu wiederholen.) Der Brief, den man durch eine Indiscretion veröffent-
licht (der von Wolffson und Virchow mitgetheilte Brief), habe ihn gar nicht
in Verlegenheit gesetzt; denn aus demselben gehe nur hervor, daß er seine
Schuldigkeit gethan. Zum Schlusse nimmt ein Arbeiter das Wort und preist
mit warmen Worten den heutigen Tag, wo der Arbeiter über die Interessen,
die ihn bewegen, mit dem Fürsten Bismarck direct verhandeln dürfe. Fürst
Bismarck stößt auf das Gedeihen des Volkswirthschaftsrathes an und mahnt
Arbeitgeber und Arbeiter, daran zu denken, daß sie Bürger eines und des-
selben Staales seien und den Fremden gegenüber gleiche Interessen hätten.
Offenbar, das gehe aus vielen, im Einzelnen nicht zu fixirenden Umständen
hervor, sei das jüngste Kind des Kanzlers, der Volkswirthschaftsrath, sein
Lieblingskind.
1. Februar. (Waldeck.) Landtag: lenkt bez. der Budget-
differenzen gegenüber Preußen doch ein,