Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Febr. 15.) 65
geschlagen worden. Die verbündeten Regierungen befinden sich nach wie vor
unter dem Eindruck der Schwierigkeiten, welche von der jährlichen Concur-
renz der parlamentarischen Arbeiten im Reich und in den Einzelstaaten un-
zertrennlich sind, und legen deßhalb den unerledigt gebliebenen Gesetzentwurf
von Neuem vor. — Mit den Regierungen von Griechenland und Brasilien
sind Verhandlungen über den Abschluß von Consular- Conventionen einge-
leitet. Ich darf hoffen, daß derselbe noch im Laufe dieser Session erfolgt,
und daß noch während der letzteren Ihre Zustimmung zu diesen Verträgen
erlangt werden kann. Zu allen auswärtigen Staaten erfreut sich das
Deutsche Reich friedlicher und wohlwollender Beziehungen, und insbeson-
dere entspricht unser politisches Verhältniß zu den uns benachbarten großen
Reichen der Freundschaft, welche Seine Majeslät den Kaiser mit den Be-
herrschern derselben persönlich verbindet. Unter den europäischen Mächten
herrscht nicht nur in dem Willen den Frieden zu erhalten, die volle Ueber-
einstimmung, sondern es besteht auch in Betreff der wesentlichen Ziele der
zwischen ihnen schwebenden Unterhandlungen keine principielle Meinungs-
verschiedenheit. Ich bin deßhalb ermächtigt, dem Vertrauen Seiner Majestät
des Kaisers Ausdruck zu geben, daß es der Einigkeit der Mächte gelingen
werde, auch partielle Störungen des Friedens in Europa zu verhüten und
jedenfalls so zu beschränken, daß sie weder Deutschland noch dessen Nachbarn
berühren.
Diese Thronrede ist die erste seit der Begründung des Reiches, in der
gerade diejenigen Vorlagen, welche noch der Berathung im Bundesrath harren,
den breitesten Raum einnehmen. In früheren Jahren war es unverbrüch-
liche Regel, daß die Thronrede nur im Namen der verbündeten Regierungen
Gesetzentwürfe ankündigte. Im vorigen Jahre wurde von dieser Regel ab-
gewichen, indem, freilich ohne jede Präcisirung, die neuen Steuervorlagen in
Aussicht gestellt wurden. In diesem Jahre werden die beiden wichtigsten
Vorlagen angekündigt, obgleich sie nur erst dem Bundesrath vorliegen, näm-
lich das Unfallversicherungsgesetz und das Innungsgesetz, und obendrein ist
die erstere Vorlage wenigstens eine solche, deren Ankündigung in der offi-
ciellen Thronrede fast eben so schwer wiegt als ein Beschluß des Bundesraths.
Der augenblickliche Fractionsbestand im Reichstage ist folgender:
Centrum 100, Nat.-Liberale 65, Conservative 50, deutsche Reichspartel (Frei-
conservative) 48, Fortschritt 27, Secessionisten 17, Polen 14, Sozialdemo-
kraten 10 Mitglieder. Bei keiner Fraction sind 37, worunter die Elsaß-
Lothringer.
15. Februar. (Deutsches Reich.) Großartige Feier des
100jährigen Todestages Lessings in Braunschweig und an vielen
andern Orten. In Berlin wird die Erlaubniß zu einer solchen Feier
von Seite des antisemitischen Vereins deutscher Studenten auf Be-
gehren von Rector und Senat der Universität polizeilich wieder zu-
rückgezogen.
15. Februar. (Preußen.) Im Provinzial-Landtage von
Schleswig-Holstein machen die drei dänischen Mitglieder bei Ge-
legenheit der Berathung über das dem Prinzen Wilhelm zu machende
Hochzeitsgeschenk eine kleine Demonstration,
indem sie ihre Zustimmung verweigern, weil sie, wider ihren Willen
vom alten Vaterland getrennt, sich unter einer Fremdherrschaft befänden, wo
ihr Nationalgefühl täglich und stündlich verletzt werde.
Schulthess. Europ. Geschichtskalender. XXIL Bb. 5