Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 20—27.) 65
torisch, gewunden, ausweichend, orakelhaft und verklausuliert bezeichnet. Das
einzige, was Hr. v. Goßler verrät, ist, daß auf die letzte Note der Kurie
eine Antwort abgefaßt sei, welche jetzt dem Kaiser zur Genehmigung vorliege,
und daß diese Antwort Vorschläge enthalte, durch deren Annahme seitens der
Kurie ein kirchenpolitischer Zustand in Preußen geschaffen werde, der dem-
jenigen nahe komme, welchen Windthorst durch Freigabe des Messelesens und
Sakramentespendens erstrebe. Diese Erklärung sieht auf den ersten Blick sich
an, als ob das Zentrum der Erreichung seiner Wünsche nahe wäre; genau
betrachtet aber enthält sie gar keine Aufschlüsse, denn da liegt gerade die
Schwierigkeit, ob die Kurie die neuen preußischen Vorschläge wird annehmen
oder ihnen ihr früheres Non possumus entgegensetzen, wollen. Denn die
Kurie sagt ja stets: „ich kann nicht", wenn sie meint: „ich will nicht“. Der
Antrag des Zentrums wird abgelehnt, und es deckt seine Niederlage nur
dürftig, indem es, um nicht gänzlich isoliert zu werden, alsbald für den konser-
vativen Antrag Althaus stimmt. Sämtliche Freikonservative und der Minister
v. Puttkamer stimmen übrigens nicht nur gegen den Antrag Windthorst, son-
dern auch gegen den konservativen Antrag Althaus. Was den Gang der
Debatte betrifft, so vergriff sich das Zentrum in der Person seines Haupt-
redners. Das ist der allgemeine Eindruck. Die Superlative, in denen sich
v. Schorlemer-Alst ergeht, verfehlen ihren Eindruck durchaus. Soviel
kennt man denn doch die thatsächlichen Verhältnisse während des Kultur-
kampfs, in Preußen und die Duldsamkeit der katholischen Kirche überhaupt,
um die übertreibungen, Entstellungen und Aufstellungen Zu würdigen, in denen
sich Hr. v. Schorlemer-Alst gefällt. Daß die in solcher Heftigkeit noch selten
im Hause gehörten Beleidigungen der frühern preußischen Regierung, deren
Chef denn doch auch Fürst Bismarck war und die als das reine Jakobiner=
Regiment geschildert wird, nicht mit mehr- Nachdruck, Selbstgefühl und Ent-
schiedenheit zurückgewiesen werden, als es Hr. v. Goßler thut, berührt etwas
peinlich, auch solche Kreise, die der konservativen Richtung näher stehen, als
der fortschrittlichen. Beachtenswert ist die Rede des Führers des gemäßigten
Fortschritts. Hänel versteht es, sehr geschickt die frühere der Kirchenpolitik
des Reichs kanzlers folgende Haltung der Fortschrittspartei mit der jetzigen,
dem Standpunkte des Zentrums in mehreren Einzelfragen näher kommenden
zu vereinigen. Am Grundgedanken der Maigesetze hält Hänel auch heute
noch fest, im Gegensatz zu Eugen Richter, der die Maigesetze vollständig
preisgeben möchte. Für die Freikonservativen erklärt v. Zedli-Neukirch,
für die Nationalliberalen v. Eynern, daß und warum sie gegen den
Windthorst'schen Antrag stimmen würden. Der altkonservative Abgeordnete
Marcard dagegen ist mit Windthorsts Antrag einverstanden. Nach der Klage
Windthorsts über die Unzulänglichkeit der ministeriellen Erklärung betonte
Hr. v. Goßler nochmals, daß er mehr nicht sagen könne, daß übrigens das
Gesagte mehr aus dem Auswärtigen Amte, als aus dem prenßischen Staats-
ministerium herrühre.
Die Regierung macht in ihren Organen kein Hehl darans, daß die
Konservativen durch ihren Antrag ihr ihre Stellung in den Unterhandlungen
mit Rom nicht erleichtert hätten.
26. April. (Elsaß-Lothringen.) Landesausschuß: nimmt
nach mehrstündiger Debatte über die Denkschrift der Regierung betr.
die Tabakmanufaktur mit allen gegen eine Stimme den Antrag der
Kommission an, die Manufaktur beizubehalten.
27. April. (Deutsches Reich.) Reichstag: Zuckersteuer-
kommission: erklärt sich in 1. Lesung mit 10 gegen 8 Stimmen für
Schultheös. Europ. Geschichtskalender. XXIV. Bd. 5