70 Das deutsche Rtich und seine einzelnen Glieder. (Mai 5.)
und findet es falsch, wenn immer behauptet werde, daß dieselben mit den
Traditionen der preußischen Monarchie im Einklange ständen. Stein und
Hardenberg hätten für die Armen auch ein Herz gehabt, und Friedrich der
Große habe sich König der Armen genannt. Aber alle hätten eine klare,
zielbewußte Thätigkeit entfaltet, während die jetzige staatssozialistische Politik
täglich nebelhafter und unklarer werde. Der äußere Friede sei hoffentlich
auf lange Jahre gesichert; möge man ihn nicht damit stören, daß man im
Innern Unfrieden stifte und einen Keil zwischen die verschiedenen Klassen der
Bevölkerung schiebe. Er stimme den sozialpolitischen Vorschlägen der Regie-
rung nicht zu, und thue das als des Kaisers allergetreueste Opposition.
Finanzminister Scholz sebt dem Bamberger'schen Ideal einer Parla-
mentsregierung, die auch Richter neulich gepriesen habe, die kaiserliche Re-
gierung gegenüber, die auch nach besten Überzeugungen vorgehe. und hoch
über den täglich wechselnden Launen des Volkswillens stehe. Sie verfahre
nach dem Willen des Monarchen mit dem Beirat der Volksvertretung. Die
Regierung habe niemals die ihr neuerdings zugeschriebene Absicht gehabt,
das Ansehen der Parlamente herabzudrücken; er widerspreche dem entschieden,
damit diese völlig unbegründete Behauptung nicht allmählich den Charakter
einer historischen Thatsache annehme, wenn sie unwiderspochen bleibe. Wenn
Bamberger das soziale Reformprogramm der Regierung ablehne, so sei das
eine Consequenz seines manchesterlichen Standpunktes, dem es unverständlich
sei, daß das Reich sich den großen sozialen Aufgaben zuwenden muß, wenn
es bestehen will, daß mit dem Gehenlassen gebrochen werden muß. Die Bot-
schaft beginne mit den Worten: „Wir haben von jeher die sozialpolitischen
Aufgaben für eine hervorragende Pflicht erkannt, die Wir als Kaiser über-
nommen“ von jeher, nicht erst seit Emanation des Sozialistengesetzes.
Damit falle der oft gehörte Einwand, die Reformen sollten bloß eine Be-
ruhigung der Arbeiter, ein Sporn sein, sich nicht der Sozialdemokratie zuzu-
wenden. Das Land werde entscheiden, ob die Gloquenz des Vorredners oder
die Botschaft maßgebend sein solle. v. Benda (nat.-lib.) konstatiert die Be-
reitwilligkeit aller Parteien zur Mitarbeit, aber die Vorlegung des Etats
habe den intendierten Zweck einer Erleichterung der Geschäfte nicht erreicht,
im Gegenteil die Schwierigkeiten der parlamentarischen Sitnation beträchtlich
vermehrt. Es wäre besser gewesen, mit dem Etat bis zum Herbste zu warten,
aber auch nach der langen sechsmonatklichen Parlamentskampagne werde die
Budgelkommission sich der eingehenden, diesmal besonders schweren Prüfung
des Etats nicht entziehen können, freilich von Anfang an mit dem Bewußt=
sein, daß alle Ansätze und Calculs durchaus unzuverlässig seien. Payer
erklärt namens der Volkspartei, daß sie gegen jede einzelne Position dieses
Etats und somit gegen den ganzen Etat stimmen werde und folglich auch
gegen jede Überweisung an eine Kommission. „Seien wir doch — ich will nicht
sagen ehrlich —., aber seien wir doch offen gegen uns und sagen wir uns
Das, was jedermann spricht, ja auch weiß, ins Gesicht, nämlich, daß es sich
hier in Wirklichleit viel weniger um die Frage der Zweckmäßigkeit handelt,
die kommt erst in zweiter Linie, sondern um eine Frage der parlamentarischen
Macht. Die Frage, die hier entschieden werden soll, ist, ob es dem Reichs-
kanzler gelingt, uns doch noch zu zwingen, das zu thun, was zu thun wir
uns bisher konsequent geweigert haben. Er verlangte von uns in erster
Linie, daß wir zweijährige Etatsperioden annehmen sellten. Wir haben uns
mit triftigen Gründen geweigert; er hat in zweiter Linie verlangt, daß wir
zwar nicht zweijährige Etatsperioden annehmen, aber doch faktisch 2 Etats
auf einmal annehmen sollen. Auch dieser Zumutung haben wir uns ge-
weigert, und jetzt verlangt er in dritter Linie von uns, daß wir die beiden
Etats zwar nicht gleichzeitig aber so rasch hintereinander beraten sollen, daß